Am 20. Juli 2017 wird sich das Bundessozialgericht (BSG) zum zweiten Mal mit familienbenachteiligenden Sozialversicherungsbeiträgen beschäftigen, nachdem das erste Urteil von der juristischen Fachliteratur wegen erheblicher methodischer Fehler und „rechtlichem Eigensinn“ kritisiert worden ist.
Der Tübinger Professor Dr. Christian Seiler kommentierte das erste Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. September 2015 zu einer der Musterklagen des Freiburger Familienbunds.
Stephan Schwär, Diözesanvorsitzender des Familienbundes in der Erzdiözese Freiburg, fasste die Kritik zusammen:
Prof. Dr. Christian Seiler ist nicht irgendjemand. Er ist Dekan der juristischen Fakultät der Universität Tübingen, lehrt Staats- und Verwaltungsrecht sowie Finanz- und Steuerrecht, war Mitarbeiter von Prof. Paul Kirchhof in Heidelberg. In der „Neuen Zeitschrift für Sozialrecht“ (NZS 2016 Heft 17, 641 – 645) kommentiert er auf mehreren Seiten das oben genannte Urteil und kommt am Ende zu einem vernichtenden Ergebnis für den Senat des Bundessozialgerichts und seine Abweisung der Freiburger Klage.
In gründlicher und sachlicher Art und Weise nimmt sich Prof. Seiler der Argumente aus der Urteilsbegründung an. Im Wesentlichen kritisiert er, dass das BSG sich mit dem Vorbringen der Kläger zur Frage der Gleichbehandlung (also Art. 3 Grundgesetz) nur unzureichend auseinandersetzt und die verfassungsrechtliche Prüfung mit wenig überzeugenden und teilweise widersprüchlichen Argumentationen verweigert.
Das Gericht „hat sich zwar eingehend mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts … befasst, die verfassungsrechtlich formulierten Maßstäbe aber doch recht unverblümt abgelehnt.“ Dabei hat nach Überzeugung von Seiler „das Bundessozialgericht den maßgebliche Sachverhalt … nicht ausreichend aufgeklärt.“ … „Auch bleiben Art und Maß … der Systembeiträge von Eltern und Kinderlosen unerwähnt, was … befremdet und zumindest als mangelnde Aufklärung der empirischen Grundlagen zu beanstanden ist.“
Seiler kommt zum Schluss: „Insgesamt sind die Ausführungen des Bundessozialgerichts, mag man seiner grundsätzlichen Position zustimmen oder nicht, in sich nicht schlüssig.“ Und: „Insofern stellen sich noch gewichtige methodische und empirische Fragen, denen sich das Bundesozialgericht sorgfältiger hätte widmen müssen. Ihm ist daher zumindest der Vorwurf mangelnder Aufarbeitung der zu beurteilenden Sachverhalte vorzuwerfen…. Die durchgängig abwehrend gehaltene Argumentation des Bundessozialgerichts hat mithin ihre Schwächen.“
Am Ende wird Seiler überaus deutlich: „Das Bundessozialgericht hätte die ihm vorgegebene Grundgesetzauslegung des Bundesverfassungsgerichts entweder akzeptieren oder im Wege einer Vorlage … zur erneuten Überprüfung stellen müssen. Die hierfür … erforderliche Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hätte sich auf der Grundlage des bundesverfassungsgerichtlichen Ansatzes einfach begründen lassen.“
So begrüßt er den Schritt der Kläger weiter mit einer Verfassungsbeschwerde den Streit nach Karlsruhe zu tragen. Zwar sei der Ausgang dort offen, aber es gäbe gute Gründe am Ansatz des Pflegeurteils von 2001 festzuhalten. Denn das System „benachteiligt letztlich alle Eltern, trifft aber vor allem die Mütter besonders hart, gerade wenn sie viele Kinder aufziehen und hierdurch bedingt nur niedrige monetäre Beiträge leisten und folglich auch nur geringere Rentenanwartschaften erwerben können. Als auf ein solidarisches und gerechtes Miteinander der Generationen angelegtes Subsystem der Sozialstaatlichkeit vernachlässigt die gesetzliche Sozialversicherung ausgerechnet jene, die selbst den größten Beitrag zur generationenübergreifenden Solidarität leisten.“
Insofern hofft Seiler – wie der Familienbund auch – dass das Bundesverfassungsgericht sich treu bleibt und den Gesetzgeber zum Handeln zwingt. Dass der Weg noch weit ist bis „die Schieflage des geltenden Systems ausgeglichen ist“, sieht er allerdings auch und wissen wir aus langjähriger Erfahrung.
Der Vorwurf vom „richterlichen Eigensinn“ bezieht sich somit zusammengefasst darauf, dass die Richter am Bundessozialgericht sich gegenüber dem Verfassungsgericht und seiner Argumentation völlig ignorant und ablehnend verhalten. Auch das höchste Fachgericht kann nicht aus eigener Überzeugung und mit solch schwacher Argumentation die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Pflegeurteil von 2001 übergehen.
Zuerst erschienen: „Forum Familie“ Nr. 69 vom Oktober 2016 (S. 5)
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