dantlgraber_webvon Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken (FDK)

Die deutsche Sozialversicherung muss dringend reformiert werden. Denn Familien werden in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung systematisch benachteiligt, indem sie trotz der hohen Kosten der Kindererziehung mit gleich hohen Beiträgen belastet werden wie Kinderlose. Das ist nicht nur ein Gerechtigkeits-, sondern auch ein verfassungsrechtliches Problem.

Bereits 2001 hat das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Pflegeversicherungsurteil entschieden, dass es dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes widerspricht, wenn bei der Beitragshöhe nicht danach differenziert wird, ob Kinder betreut und erzogen werden. Der Gleichheitssatz des Grundgesetz fordert nicht nur, dass Gleiches gleich, sondern auch, dass Ungleiches ungleich behandelt werden muss.

Unterhaltsverpflichtete Eltern sind wirtschaftlich ungleich stärker belastet als Personen, die keine Unterhaltspflicht trifft. Zudem stellen die Summen, die Eltern für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder ausgeben, einen wichtigen Beitrag für die Sozialversicherung dar. Denn eine umlagefinanzierte Sozialversicherung, bei der die jeweils jüngere Generation für die jeweils ältere zahlt, ist auf gut ausgebildete neue Beitragszahler existenziell angewiesen.

Eltern erbringen also einen doppelten Beitrag für die Sozialversicherung: einerseits durch Geldbeiträge, andererseits durch die kostenaufwendige Erziehung ihrer Kinder. Deswegen müssen sie bei den Geldbeiträgen entlastet werden.

Das konnte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2001 nur für die Pflegeversicherung verbindlich entscheiden. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert, indem er dort 2005 einen Beitragszuschlag von 0,25 Prozentpunkten für Kinderlose einführte.

Diese Minimallösung half den Familien kaum weiter, änderte nichts an der Gerechtigkeitsproblematik und wurde auch dem Geist des Urteils nicht gerecht. Denn das Gericht hatte im Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen sein wird“ – ein Wink mit dem Zaunpfahl, den der Gesetzgeber bis heute nicht beachtet hat. Bei der Renten- und Krankenversicherung sah man keinen Handlungsbedarf, obwohl die Übertragbarkeit der höchstrichterlichen Argumentation auf diese Versicherungszweige auf der Hand liegt.

Weil der Gesetzgeber untätig geblieben ist, hat der Familienbund der Katholiken 2006 den Klageweg beschritten, um den Familien doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen. Dieser Gang durch die Instanzen dauert nun zehn Jahre an und wird vom Familienbund und dem Deutschen Familienverband durch die Aktion www.elternklagen.de begleitet.

Seit dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. September 2015 ist der Weg für eine erneute Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts frei. Unmittelbar nach Zustellung des Urteils – voraus- sichtlich im Frühjahr 2016 – wird der Familienbund Verfassungsbeschwerde erheben und dem höchsten deutschen Gericht die Gelegenheit geben, in konsequenter Fortführung seiner Entscheidung von 2001 endlich Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung herzustellen.

Eine vernünftige Lösung für eine Beitragsdifferenzierung zwischen Eltern und Kinderlosen wäre die Einführung eines Kinderfreibetrags, wie es ihn im Steuerrecht bereits gibt. Eltern müssten dann nur auf den Teil ihres Einkommens Sozialversicherungsbeiträge zahlen, der ihnen verbleibt, nachdem sie einen Betrag in Höhe des Existenzminimums ihrer Kinder abgezogen haben.

Ein solcher Freibetrag wäre gerecht. Denn es würde sichergestellt, dass jedes Mitglied der Sozialversicherung nur auf den Teil seines Einkommens Beiträge zahlt, der ihm tatsächlich zur Verfügung steht. Ein solcher Freibetrag wäre auch keine Bestrafung Kinderloser, sondern vielmehr eine angemessene Berücksichtigung der unterschiedlichen ökonomischen Leistungsfähigkeit.

Ein Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung wäre auch sozial gerecht. Denn während der Kinderfreibetrag im Steuerrecht wegen der Steuerprogression dazu führt, dass Personen mit hohen Einkommen besonders profitieren, würde dieser Effekt bei einem Freibetrag in der Sozialversicherung entfallen. Da Sozialversicherungsbeiträge nicht progressiv erhoben werden, wäre die Entlastung durch einen Kinderfreibetrag für alle Familien pro Kind gleich. Nicht zuletzt wäre ein solcher Freibetrag ein wesentlicher Beitrag gegen Kinder- und Familienarmut und für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.


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