von Siegfried Stresing, Kampagnenleiter elternklagen.de

StresingAm 20. Juli 2017 ist es soweit. Dann stehen weitere zwei Familien vor dem Bundessozialgericht (BSG) und kämpfen für familiengerechte Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung, in der gesetzlichen Krankenversicherung sowie in der sozialen Pflegeversicherung.

Es ist die unendlich scheinende Geschichte darüber, wie die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgestellten Grundsätze aus seiner Entscheidung zur Pflegeversicherung vom 3. April 2001 politisch und juristisch blockiert werden. Sehr gut hat diese Geschichte Prof. Dr. Anne Lenze in ihrem Aufsatz „Auf ein Neues: Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung“ analysiert. Zitate in der folgenden Zusammenfassung sind diesem Aufsatz entnommen (juristische Fachzeitschrift „Die Sozialgerichtsbarkeit“ SGb 03.17 S. 130ff).

Vorgeschichte

Aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG hatte das BVerfG den Grundsatz abgeleitet, dass in sozialen Sicherungssystemen, die auf das Nachwachsen einer ausreichenden jungen Generation angewiesen sind, die Kindererziehung als ein generativer Beitrag bewertet werden muss. Im allgemeinen Sprachgebrauch sprechen wir von einem Generationenvertrag, was dem Grunde nach nicht zutreffend ist. Die Vertragspartner, die damit belastet werden, haben diesen Vertrag nie unterzeichnet, und doch über Jahrzehnte erfüllt, weil es gar keine Alternative dazu gibt.

Wenn aber der generative Beitrag nicht mehr in der Regel von allen Versicherten erbracht wird, so führt dies zu einer gleichheitswidrigen Belastung kindererziehender Versicherten, deren „benachteiligende Wirkung auch innerhalb dieses Systems auszugleichen ist“ und zwar „während der Zeit der Betreuung und Erziehung“. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht nur für die Pflegeversicherung Recht gesprochen, denn nur dazu lag eine Beschwerde vor. Gleichzeitig trug das Gericht dem Gesetzgeber jedoch auf, „die Bedeutung dieses Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen“.

Nachdem der Gesetzgeber diese Vorgaben in der Pflegeversicherung nur unzureichend umsetzte und bei den anderen Versicherungszweigen gar keinen Handlungsbedarf sah, begaben sich einige Familien, darunter auch der Unterzeichner, auf den Weg durch die Instanzen, um notfalls eine weitere Entscheidung des obersten deutschen Gerichts zu erlangen.

Ohne jeden Skrupel“ wurden sie 2003 vom 12. Senat des BSG nach sieben Jahren Verfahrensdauer „an die Startlinie zurückgeschickt“. Drei Jahre später hatte der 12. Senat dann ein zweites Mal die Klage abgewiesen und „mit Urteil vom 5.7.2006 unbekümmert dargelegt, dass er die Grundsätze des Pflegeversicherungsurteils (des BVerfG) inhaltlich für falsch halte – ohne allerdings diese Frage Karlsruhe vorzulegen.

Verfassungsbeschwerde: Siegfried Stresing (li., Deutscher Familienverband) mit Georg Zimmermann, ebenfalls Kampagnenleiter (Familienbund), vor dem BVerfG (Foto: Kirsten Anders, Konradsblatt).

Am 30.09.2015 standen erneut Familien vor diesem Senat, akribisch durch volkswirtschaftliche Gutachten vorbereitet. Die gesamten Schriftsätze sind unter www.elternklagen.de dokumentiert. Der Aktion „Wir jammern nicht – wir klagen“ des Deutschen Familienverbandes (DFV) und des Familienbundes der Katholiken (FDK) haben sich ca. 2.500 weitere Familien angeschlossen und sich auf den Klageweg begeben. „Man fragt sich, warum um alles in der Welt der 12. Senat des BSG nicht den naheliegenden Weg gegangen ist, diese dringende ungeklärte Verfassungsfrage dem BVerfG vorzulegen.

Prof. Lenze setzt sich in ihrem Beitrag detailliert mit dem Urteil des BSG vom 30.09.2015 auseinander. An dieser Stelle sollen nur einige wenige Argumente aufgegriffen werden:

Ausführlich geht das BSG auf „familienentlastende Leistungen“ ein und ignoriert damit den wichtigsten Grundsatz der Entscheidung zur Pflegeversicherung aus 2001, wonach der Beitrag der Kindererziehung erstens „innerhalb des Systems“, zweitens zwischen Kinderlosen und Eltern und drittens „während der Zeit der Erziehung“ vorzunehmen ist. Lenze stellt in aller Klarheit fest: „Offensichtlich befindet sich der 12. Senat in offenem Widerspruch zu den Grundsätzen des BVerfG in seiner Entscheidung vom 3. April 2001 – dies aber hätte eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG erforderlich gemacht.

Ähnlich klar wird auch Prof. Dr. Christian Seiler in seinem Aufsatz „Richterlicher Eigensinn im Sozialversicherungsrecht“ (Neue Zeitschrift für Sozialrecht, Heft 17, S. 641 ff). Hierzu wird auf die Besprechung von Stephan Schwär verwiesen.

Sozialversicherungsbeiträge ursächlich für Familienarmut

Es muss deutlich gemacht werden, dass es sich bei dem Anliegen der Kläger nicht um eine diffuse gesellschaftliche Benachteiligung von Familien handelt, die durch ein Potpourri familienfördernder Maßnahmen außerhalb der Sozialversicherung geheilt werden könnte. Im Gegenteil: Die Probleme – die Verarmung von Familien – gehen in erster Linie und ganz wesentlich von dem Beitragsrecht der Sozialversicherung selber aus“, stellt Lenze fest und verweist auf alljährliche Berechnungen des DFV / FDK.

Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen von 35.000 EUR unterschreitet eine vierköpfige Familie ihr steuerliches Existenzminimum um 1.603 EUR. Während ein Alleinstehender mit dem gleichen Einkommen nach Deckung seines Bedarfes in Höhe des Existenzminimums noch ein frei verfügbares Einkommen in Höhe von 13.421 EUR hat. „Die relative Einkommensposition von Familien im Vergleich zu Alleinstehenden hat sich im Zeitraum von 2006 bis 2015 kontinuierlich verschlechtert. Wer sich wundert, dass die steigende Müttererwerbstätigkeit, die Zunahme der versicherungspflichtigen Beschäftigten und die prosperierende Wirtschaft die von vielen beklagte Kinderarmut in Deutschland nicht hat reduzieren können, findet hier eine der wesentlichen Ursachen. Die Sozialversicherung kann nicht länger so tun, als habe sie damit nichts zu tun.

Schlussfolgerung

Lenze schließt: „Es bleibt festzuhalten, dass sich der 12. Senat des BSG in dieser Entscheidung (30.09.2015) an einzelnen Teilaussagen des Pflegeversicherungsurteils des BVerfG abgearbeitet hat, ohne sich jedoch auf diesen Maßstab einzulassen, aber ohne den Dissens offen auszusprechen. Damit hat er sich in eklatanter Weise über die Verfassungsjudikatur und die in Art. 100 GG statuierte Vorlagepflicht hinweggesetzt.

Am 20.07.2017 geben Familien dem 12. Senat des Bundessozialgerichts, unter neuem Vorsitz, die Chance, dies zu korrigieren.

 


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