von Dr. Jürgen Borchert, erschienen in ZIAS – Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht
Der Abbau von Existenzängsten war von Anfang an das Ziel des deutschen Sozialstaats. Erst recht war man nach dem Zweiten Weltkrieg genauestens darüber im Bilde, was dem Extremismus zuvor Tür und Tor geöffnet hatte. Heute ist seine Neuordnung erneut überfällig. Denn der „Wirtschaftswunder-Sozialstaat“ ist aufgrund exo- wie endogener Ursachen längst gescheitert. Statt von oben nach unten umzuverteilen, bewirkt sein zentrales Aggregat „Sozialversicherung“ zunehmend das Gegenteil. Die Risiken und Notlagen, vor denen sie schützen soll, produziert die Sozialversicherung immer öfter selbst. Die daraus erwachsenden Existenzängste bedrohen die Demokratie.
I. Von der „Kaiserlichen Botschaft“ bis zum Zweiten Weltkrieg
1881-89 ins Leben gerufen, um „die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen“,1 war die Sozialversicherung anfangs als Unterstützung für die Kleinfamilien der Industriearbeiter gedacht, die mit der Unterstützung ihrer Mitglieder überfordert waren. Die Risiken waren begrenzt, die Beiträge niedrig, der Reichszuschuss hoch, der „Arbeitgeberbeitrag“ anfangs ein echtes Opfer der Unternehmen. Dicht auf dem Fuße folgte dieser Reform 1891 die progressive Einkommensteuer. Die so in Gang gesetzte Umverteilung von oben nach unten verbesserte die Kaufkraftverteilung, führte zu einem selbsttragenden Aufschwung mit Lohnerhöhungen und befriedete die sozialen Konflikte. Aus der 10-Prozent-Minderheit der Industriearbeiter wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine 80-Prozent-Mehrheit der Arbeitnehmer.2 Der „Arbeitgeberbeitrag“ mutierte zum vorenthaltenen Lohn3 und den Reichszuschuss finanzierten die Arbeitnehmer über Verbrauchs- und Lohnsteuern zunehmend selbst.
II. „Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft“
Eine Zäsur markierte der Zweite Weltkrieg, der die familiäre Basis des Systems zerstörte: Schätzungsweise vier Millionen Söhne und Ernährer waren gefallen, hunderttausende Wohnungen zerbombt, Millionen vertrieben, die Kapitaldeckung der Rentenversicherung fast vernichtet. In dieser Situation war das 1955 veröffentlichte Konzept „Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft“ des Mathematikers und Volkswirts Wilfrid Schreiber genial, anstelle der Millionen zerbrochenen Kleinfamilien eine soziale Großfamilie zu formen.4 Die Altenversorgung und die Kinderversorgung sollten durch „Generationenverträge zwischen den jeweils zwei Generationen der Erwerbstätigen einerseits und Kindern bzw. Alten andererseits“ per Umlagefinanzierung „sozialisiert“ und dabei alle Erwerbstätigen einbezogen werden.5 Die „Gaukelspiele“ des Bundeszuschusses wie des Arbeitgeberbeitrages lehnte Schreiber ab. Mit dem tonangebenden Soziologen und Volkswirt Gerhard Mackenroth sah er das große neue Verteilungsproblem nicht mehr zwischen den Klassen, sondern innerhalb jeder Schicht bei den Familien: Weil nämlich die Löhne als Markteinkommen unweigerlich individualistisch verengt und blind für die Frage seien, wie viele Haushaltsangehörige zu versorgen sind, müsse der neue Umverteilungsfokus auf Familien einerseits und die „familienmäßig Ungebundenen“ andererseits gerichtet werden; hier bedürfe es „einer ganz großen Einkommensumschichtung“.6 Gegen den erbitterten Widerstand Schreibers und seiner Mitstreiter setzten Kanzler Adenauer und die CDU im Wahljahr 1957 jedoch eine Rentenreform durch, bei welcher die Ruheständler die Gewinner und Familien die Verlierer wurden. Erstere erlebten ein „Sterntalermärchen“, weil sie über Nacht lohnersetzende und lebensstandardsichernde Renten erhielten, ohne jemals auch nur einen Beitrag in das neue System gezahlt zu haben. Leidtragende wurden die Familien: Um die Beitragszahler nicht zu überfordern, amputierte Adenauer die „Kindheits- und Jugendrente“. Die Beschränkung auf die Arbeitnehmerschaft, die Lohnbasierung, der Bundeszuschuss, der Arbeitgeberbeitrag und die Versicherungsterminologie blieben entgegen Schreiber, der totale Transparenz für entscheidend hielt, beibehalten.
Damit war die Versorgung der Ruheständler sozialisiert, die Kinderlasten jedoch mussten weiter privat getragen werden, obwohl im neuen System die einzige Vorsorge der sozialen Alterssicherung – ob in der Renten-, Kranken- oder Pflegeversicherung – im Aufziehen der Kindergeneration bestand. Etabliert wurde so ein System der „Transferausbeutung der Familien“7: Eltern mussten fortan auf ihre Privatkosten die Altersvorsorge für ihre kinderlosen Generationsteilnehmer „auf die Beine stellen“. Vergebens warnten Schreiber und seine Mitstreiter, dass diese asymmetrische Verteilungsordnung Familien überfordern, die Geburtenrate einbrechen und das gesamte System kollabieren werde.8
III. Der Aufstieg des „Wirtschaftswunder-Sozialstaats“ – und sein Fall
Die schweren Mängel des Systems blieben lange Zeit verborgen, denn noch war der Anteil der Familien hoch, derjenige der Rentner wie der Kinderlosen (einschließlich der Eltern erwachsener Kinder) klein und die Beitragslasten niedrig. Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft mit dem „Wirtschaftswunder“, welches das Trümmerland Deutschland (West) mit 20 Millionen Kriegsversehrten, Ausgebombten, Vertriebenen, Witwen und Waisen binnen 10 Jahren wieder an die Spitze der Weltwirtschaft trug, überstrahlte alles. Es wurde zugleich zum Beweis der wirtschaftlichen Dynamik, welche die Begrenzung der Einkommens- und Vermögenskonzentration durch einen „Fiskalsozialismus“ freisetzt: Zwischen 1948 und 1953 lag der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer bei sagenhaften 95 Prozent, ab 1953 bei 80 Prozent! Im Nachkriegsdeutschland war die Lektion angekommen, dass massenhafte Existenzängste die Kehrseite von Riesenvermögen sind und dem Extremismus Tür und Tor öffnen.9 Fundamente des Sozialstaats waren der Nationalstaat und die Nationalökonomie, – also die territoriale Einheit von Volk, Staat und Wirtschaft. In der „Deutschland AG“ waren die Einzel- wie Gemeinschaftsinteressen von Banken, Großkonzernen, Mittelstand und Gewerkschaften auf kunstvolle Weise verflochten. Letztere sorgten mit ihrem hohen Organisationsgrad und ihr Angebotsmonopol für Arbeitskräfte für ein hohes, stetig wachsendes Lohnniveau. Dies beflügelte den Hub und Schub der Wirtschaftsaggregate auf der Nachfrageseite. Ferner beinhaltete der durch den sog. Korporatismus erzielte soziale Friede einen großen Standortvorteil gegenüber dem unruhigeren Ausland auf dem Weltmarkt. Endlich garantierte der Nationalstaat per se quasi automatisch die Abschottung des Arbeitsmarktes gegenüber unorganisierten, anspruchsloseren Einwanderern und beschränkte damit auch die soziale Teilhabe auf die Angehörigen der Nation.
Diese Strukturen sind Geschichte: Die Revolution der modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel hat die Binnenmarkt- zur Weltmarktproduktion gemacht; das gilt vor allem für die Finanzdienstleistungen. Die Hauptakteure der Realweltwirtschaft sind nicht mehr die einzelnen Volkswirtschaften, sondern die ca. 44.000 transnationalen Konzerne, die zwei Drittel des Welthandels abwickeln, rund 50 Prozent davon im konzerninternen Warenverkehr (statt „made in Germany“ nun „made by Siemens“). Sie folgen nach dem Shareholder Value-Prinzip keinerlei nationaler Verbindlichkeit mehr, sondern allein der Maximierung der Kapitalverwertung.
Die technologischen Entwicklungen, allen voran das Internet, tun ein Übriges. Homebanking und Crowdworking zeigen, wie die räumlichen und sozialen Grenzen für Dienstleistungen verschwinden, sich mit den bestehenden Regeln weder arbeitsrechtlich noch sozialrechtlich in den Griff bekommen lassen.10 Der Betrieb als Ort der Produktion wie der Klassengegensätze verschwindet und dies bedingt eine zunehmende Schwächung der Gewerkschaften; das ortsgebundene Humankapital verliert immer mehr Arbeitsplätze vor der Haustür und seine mühsam erkämpften Rechte.
IV. Erosion der Finanzierungsgrundlagen
Im Zuge dieser Entwicklung kommt es zur Ent-Territorialisierung und damit der Entnationalisierung der meisten relevanten Strukturen, die dann auch außerhalb der Reichweite nationaler Politik liegen. Die Europäisierung potenziert die Wirkungen der Globalisierung; denn die Verantwortung für die Geld-, Zins- und Währungspolitik – und damit für die traditionell wichtigsten Instrumente zum Schutze des heimischen Arbeitsmarkts – liegt nun bei der EZB. Die Geld- und Fiskalhoheit als die zentralen Instrumente der Konjunkturlenkung fallen auseinander; globale Geldwirtschaft und nationale Sozialpolitik prallen aufeinander. Während die nationalstaatliche Kooperation hinsichtlich Kaufkraftverteilung und Geldkreislauf eingespielt war, fehlt es an der entsprechenden globalen wirtschafts- und währungspolitischen Kooperation. Ohne verbindliche internationale Spielregeln hinsichtlich der realen und monetären Kreisläufe lassen sich die Durchsetzung nationaler Beschäftigungsziele und der Ausbau solidarischer Sicherungssysteme aber nicht (mehr) erreichen. Die neuen Strukturen der Ökonomie stehen damit in diametralem Gegensatz zu dem Sozialstaat alter Prägung.11
Wie sich die für die „Soziale Marktwirtschaft“ prägende Koppelung wirtschaftlicher Freiheit an soziale Verantwortung verflüchtigt und welche Konsequenzen diese strukturellen Veränderungen für die nationale Ordnung sozialer Verantwortlichkeiten mit sich bringen, zeigen die tektonischen Verschiebungen zwischen der seit 1975/81 von etwa 75 bis heute auf nur noch rund 66 Prozent gesunkenen Lohnquote und dem Anstieg bei den Kapitalgewinnen. Diese beleuchten zugleich die Erosion der Finanzierungsgrundlagen der lohnbasierten Sozialversicherung.12
V. Die Sozialversicherung als Motor der sozialen Spaltung und Grenzlinie der Zwei-Klassen-Gesellschaft
Zu den exogenen Ursachen sozialstaatlichen Scheiterns treten tiefgreifende Veränderungen der fiskalischen und parafiskalischen Lastenverteilung zwischen der Masse der sozialversicherten Arbeitnehmer und den anderen gesellschaftlichen Gruppen sowie endogene Verteilungsfehler der Sozialversicherung noch hinzu. Während der Spitzensteuersatz zwischen 1955 bis heute von 80 Prozent auf 45 Prozent sank und die veranlagte Einkommensteuer Ende der 1990er-Jahre schließlich zur Marginalsteuer verkam, avancierten die Lohn- und Umsatzsteuern zu den Haupteinnahmequellen des Fiskus mit einem Anteil von fast 70 Prozent. Gleichzeitig verdoppelten sich die Sozialbeiträge (inkl. der „Arbeitgeberbeiträge“) von rund 20 auf 40 Prozent und überholte das Volumen der Sozialbeiträge bald schon das der Einkommensteuer. Rechnet man die indirekten Steuern und das Aufkommen aus Sozialbeiträgen zusammen, finanzieren sich die öffentlichen Hände in Deutschland heute zu über 70 Prozent aus Abgaben mit „regressiver“ Wirkung, d.h. vor allem zulasten der Einkommensschwächeren.13 Kapitalerträge hingegen werden lediglich mit einem Satz von 25 Prozent zur Kasse gebeten. Hinzu kommt, was regelmäßig übersehen wird, die in den letzten vier Jahrzehnten stark gestiegene Staatsverschuldung auf zwischenzeitlich rund 2,1 Billionen Euro (= etwa 6 Bundeshaushalte), die implizit – gemessen an Art. 115 GG – eine entsprechende Steuererleichterung für die besonders leistungsfähigen Steuerzahler beinhaltet. MaW: Die staatliche Umverteilung von unten nach oben ist etwa dreimal so stark wie umgekehrt.
Infolge dieser Veränderungen wächst die Kluft nicht nur zwischen den Beitragszahlern und den Sozialversicherungsfreien, sondern infolge der Beitragsbemessungsgrenzen zugleich innerhalb der Sozialversicherten zwischen denen mit unterdurchschnittlichem und jenen mit überdurchschnittlichem Verdienst. Vor den fatalen Folgen der linearproportionalen und durch Beitragsbemessungsgrenzen limitierten Sozialbeiträge, die mit ihrer „regressiven Wirkung“ dem Sozialstaatsgebot Hohn sprächen, warnten unisono Gewerkschafter14 und Spitzenfunktionäre der Sozialversicherung15; Franz-Xaver Kaufmann wies auf das durch die regressive Lohnbelastung der Sozialversicherung induzierte „Zentralproblem“ der Freisetzung „suboptimaler Arbeitskräfte“ hin.16 Wegen der Beitragsbemessungsgrenzen nimmt die Grenzbelastung aus Steuern und Sozialabgaben mit steigenden Einkommen ab, weshalb die Spreizung zwischen Oben und Unten wegen des riesigen Volumens der Sozialbeiträge zwangsläufig stark und mit wachsender Beitragsbelastung immer schneller zunimmt: Beispielsweise liegt die effektive Grenzbelastung eines Ehepaares mit zwei Kindern, bei dem nur ein Ehepartner verdient, bei einem Bruttoeinkommen von 40.000 Euro bei ca. 45 Prozent, während sie bei einem Bruttoeinkommen von 90.000 Euro und gleicher Haushaltskonstellation bei 35 Prozent endet.17 Ob diese Effekte durch die Bundeszuschüsse in die Sozialversicherungen von über 100 Mrd. Euro abgemildert oder womöglich sogar verstärkt werden, ist wegen des heterogenen Steuermix mit einem Übergewicht bei Verbrauchsteuern kaum eindeutig zu beantworten.18
VI. Das Rätsel der doppelten Kinderarmut – und seine Lösung
Besonders hart treffen diese Verteilungsfehler Arbeitnehmerfamilien, denn ihre Einkommen liegen im horizontalen Vergleich pro-Kopf stets unter denen der Unterhaltsfreien. Wegen der „individualistisch verengten“ Löhne und der nicht nach Unterhaltslasten differenzierenden Beiträge wirkt jede Beitragserhöhung bei ihnen, bezogen auf das nach Deckung des Existenzminimums frei verfügbare Einkommen, zudem je nach Kinderzahl mit dem „Faktor K“ multiplikativ. Die Steigerung des Anteils armer Kinder auf das Sechzehnfache19 – trotz einer Halbierung der jährlichen Geburtenzahl von 1,35 Mio. in 1964 auf heute nur noch rund 780000 Geburten – geht vor allem auf das Konto des Beitragssatzanstiegs von rund 20 auf 40 Prozent. Inzwischen unterschreitet bereits die vierköpfige Familie mit Durchschnittseinkommen (35.000 € brutto p.a.) trotz 4.656 Euro Kindergeld/Jahr das Existenzminimum netto um rund 2000 Euro.20 Massive Beschädigungen der Bildungsfähigkeit und der Gesundheit des Nachwuchses, Facharbeitermangel und Produktivitätseinbußen sind die Folgen.21 Gleichzeitig verstärkt die „Unterjüngung“ infolge der Geburtenarmut weitere Wechselwirkungen wie das kollektive Altern, das Beitrags- und/oder Steuererhöhungen erzwingt.22
VII. Statt vor Notlagen zu schützen, „produziert“ die Sozialversicherung sie!
Auf das Konto der Sozialbeiträge gehen noch weitere Risiken und Notlagen wie v.a. Altersarmut23 und „Wohnungsnot“: Denn die Belastung mit Sozialabgaben führt dort, wo der große ungedeckte Bedarf besteht, bei sozialversicherten Familien, zur relativen Einkommensarmut, während für Singles und Senioren meist das Gegenteil, nämlich Einkommensüberschüsse bei geringerem oder gar gedecktem Bedarf, zu konstatieren sind. Die Folge sind Verdrängungseffekte, insbesondere für junge Familien und v.a. auf dem Wohnungsmarkt. Denn dieser reagiert als nicht-flexibler Gütermarkt auf die steigenden Anteile einkommensstarker Unterhaltsfreier (inkl. der Eltern erwachsener Kinder!) mit Preissteigerungen. Das Wohnungsproblem ist kein Mangel-, sondern ein Verteilungsproblem,24 welches primär aus der Zunahme der Single Haushalte und dem Anstieg der Wohnfläche mit höherem Alter resultiert.25 Hierfür setzt aber die Sozialversicherung mit ihrer Umverteilung von Unten nach Oben und von Jung zu Alt die mit Abstand wirksamste Ursache. Zwischen Sozialversicherungspflicht und -freiheit verläuft die Grenze einer Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Weil die Sozialversicherung an der Arbeit im Inland anknüpft, ist sie zugleich „national bis auf die Knochen“, grenzt „die Fremden“ aus, liefert dem emotionalen Fremdenhass so unfreiwillig die Abweisungsargumente und steht damit quer zu den unaufhaltsamen Trends, aber auch den politischen Erfordernissen unserer Zeit.26
VIII. Sozialstaat und Demokratie: Die „siamesischen Zwillinge“ und das Doppelgrab
Aufgrund der exogenen Einflüsse und ihrer endogenen Verteilungsfehler erzeugt die Sozialversicherung so wachsende Ungleichheit, Unsicherheit und Existenzängste. Die Politik hat die Lektionen der Geschichte offenbar vergessen und seit mindestens drei Jahrzehnten die Anpassung an die radikal veränderten Bedingungen versäumt. Wenn allenthalben der Abstieg der Mittelschicht beklagt wird, muss der Fokus auf die Sozialversicherung gerichtet werden, welche v.a.die hart arbeitenden Durchschnittsfamilien durch ihre Überlast finanziell erdrosselt und regelrecht deklassiert. Mit deren Niedergang ist zugleich der der Volksparteien sowie das Erstarken des Extremismus vorprogrammiert, droht das Ende der Demokratie. Denn Sozialstaat und Demokratie sind „siamesische Zwillinge. Stirbt einer, brauchen wir ein Doppelgrab!“ (Heribert Prantl). Was Not tut, ist ein die Gesellschaft wieder vereinendes Universalsystem27 Doch dafür stehen die Chancen schlecht. Denn auch für die Bevölkerungsentwicklung bestätigt sich die Richtigkeit des sog. „Kapp-Theorems“, dass durch fehlgeleitete soziale Prozesse, in diesem Falle durch die 1957 „vermurkste“ Sozialversicherung, Schieflagen ausgelöst werden, die Gesellschaften stets in Richtung des ersten Impulses weitertreiben und im schlimmsten Falle ihr Gleichgewicht verlieren lassen.28 Im Ergebnis können partikularistisch organisierte Demokratien gerade deshalb scheitern, weil in ihnen die allgemeinsten gesellschaftlichen Interessen keinen Patron für ihre Durchsetzung finden, – ja mehr noch: Der Verwirklichung gesamtgesellschaftlicher Interessen stehen umso mehr organisierte Einzelinteressen entgegen, je grundlegender sie sind.29
IX. Das Bundesverfassungsgericht am Zuge!
Nach Lage der Dinge kann nur noch das Bundesverfassungsgericht zur „Rettung in letzter Sekunde“ einschreiten. Mit dem Urteil zur Gesetzlichen Rentenversicherung vom 7.7.199230 und zur sozialen Pflegeversicherung vom 3.4.200131 hat es bereits Bekanntschaft mit den Verteilungsproblemen der Sozialversicherung speziell für Familien gemacht und hat den Gleichheitssatz über das Nachteilsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellt.32 Was noch der Entdeckung harrt, ist die Tatsache, dass die Probleme bei den Familien nur die Kumulation und Kulminierung der allgemeinen Verteilungsprobleme dieses Systems sind.
Weil der Gesetzgeber die Verfassungsaufträge aus 1992 und 2001 nicht erfüllt hat, haben Familienverbände zum „Elternaufstand“ auf den Rechtsweg nach Karlsruhe aufgerufen. Tausende sozialversicherte Familien sind dem gefolgt.33 Ihr Ziel ist die Einführung von Freibeträgen in den Beitragstarif der Sozialversicherung analog zur Einkommensteuer.34 Das Bundessozialgericht hat sich dem Anliegen in durchaus fragwürdiger Weise entgegengestellt.35 Hinsichtlich der vollkommen neuen verfassungsrechtlichen Problematik, welche der kapitalgedeckte Pflegevorsorgefonds seit 2015 aufwirft,36 hat es sich völlig verweigert.37 Für diesen sollen bis Ende 2033 jährlich 0,1 Prozent der Beitragssumme des Vorjahres angelegt und ab 2035 bis zum Jahr 2054 zur Dämpfung des demographisch bedingten Beitragssatzanstiegs entspart werden. Trotz ihrer geringeren Verantwortung für die „Unterjüngung“ zahlen Eltern denselben Beitragsatz. Weder dies noch die Tatsache, dass im Bereich der Sozialversicherung gewichtige prinzipielle Gründe gegen Kapitaldeckung sprechen38 und der Vorsorgefonds zudem ersichtlich sinn- und zweckwidrig konzipiert ist,39 hielt das BSG für „grundsätzlich“. Anderer Auffassung ist aber offensichtlich das Bundesverfassungsgericht: Inzwischen wurden nämlich zu zwei Verfassungsbeschwerden betreffend die Renten- und Pflegeversicherung und einem Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Freiburg betreffend die Pflegeversicherung die Legislative und Exekutive angehört.40 Wenn nicht alles täuscht, steht also eine weitreichende Entscheidung für den Sozialstaat wie für die Demokratie gleichermaßen bevor.
Quelle: Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS), 32/3018
FUßNOTEN
1 So die „Kaiserliche Botschaft“ vom 17.11.1881
2 Zu dieser Entwicklung siehe von Maydell, Bernd, Der Wandel des Sozialversicherungssystems im allgemeinen Rechtssystem in den letzten 100 Jahren, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1981,413 ff.; Borchert, Jürgen, Renten vor dem Absturz, Ffm 1994, S. 41 ff.
3 vgl. van Langendonck, Jef, Der Unsinn des Arbeitgeberbeitrags, in Winfried Boecken, Franz Ruland und Heinz-Dietrich Steinmeyer (Hg.): Sozialrecht und Sozialpolitik in Deutschland und Europa. Festschrift für Bernd Baron von Maydell, Neuwied 2002, S. 787 ff; Kirchhof, Ferdinand, Finanzierungsinstrumente des Sozialstaats, in: Mellinghoff (Hg.), Steuern im Sozialstaat (2006), S. 44: „Der Arbeitgeberanteil an den Beiträgen ist ökonomisch und rechtlich ein Lohnbestandteil des Arbeitnehmers; dies ergibt sich z. B. aus der Befreiung der Arbeitgeberbeträge von der Steuer in § 3 Nr. 62 EStG.“ 2
4 Bonn 1955, – https://de.wikipedia.org/wiki/Wilfrid_Schreiber#cite_note-1
5 aaO, S. 29: „Vollmitglied der Rentenkasse des deutschen Volkes ist kraft Gesetzes jeder Bürger der Deutschen Bundesrepublik, der – als Arbeitnehmer oder Selbständiger – Arbeitseinkommen erzielt.“
6 Gerhard Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan in: Böttcher, Erik (Hg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 43 ff. (60 f.); ebenso Schreiber, aaO (Fn. 4), S. 8
7 Suhr, Dieter, Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, in: Der Staat, 29/1990, S. 69 ff.
8 Dazu im Einzelnen Borchert, Jürgen, Renten vor dem Absturz, Ffm. 1994, S. 50 ff.; ders., Sozialstaatsdämmerung, München 2014, S. 52 ff. (jeweils mwN) 3
9 Dazu Borchert, aaO (2014), S. 161 ff. (mwN)
10 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Forschungsbericht 490, Sozialversicherungsrechtliche Einordnung neuer Beschäftigungsformen mit Schwerpunkt Plattform-bzw. Gig-Ökonomie, Juli 2017 4
11 Wilhelm Hankel: »Die ökonomischen Konsequenzen des Euro«, in Wilhelm Hankel, Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty (Hg.): Der Ökonom als Politiker. Festschrift für Wilhelm Nölling, Stuttgart 2003, S. 385 ff. (392).
12 Zum Raubbau am Humankapital als Ursache des Wirtschaftsbooms siehe Borchert, Der „Wiesbadener Entwurf“ einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaats, in: Hess. Staatskanzlei (Hg.), Die Familienpolitik muss neue Wege gehen!, Wiesbaden 2003, S. 138 ff; zur Kehrseite: Vierter Tragfähigkeitsbericht der Bundesregierung, Berlin 2016
13 Dazu detailliert Borchert, Jürgen, Sozialstaatsdämmerung, München 2014, S. 117 ff. 5
14 Auerbach, Walter, Zusammenhänge – Illusion und Wirklichkeit der sozialen Sicherheit, in: Theorie und Praxis der Gewerkschaften, 2. Aufl., europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main 1969, Seite 38
15 Ruland, Franz, DRV 1/1995, S. 28 ff.: „Aus diesem Unterschied zwischen einheitlichem Beitragssatz und progressiven Steuersatz folgt, dass eine Beitragsfinanzierung sozialer Lasten vor allem die begünstigt, die hohe Einkommen haben … Doppelt begünstigt sind die, deren Einkommen oder dessen Spitzenbetrag überhaupt nicht beitragspflichtig ist. Daher ist die immer wieder anzutreffende Feststellung, dass Besserverdienende infolge eines sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung stärker herangezogen würden, unzutreffend… Das Sozialversicherungsrecht steht nicht außerhalb der Grundrechtsgeltung. Daher kann nicht schon die Qualifikation einer Abgabe als Sozialversicherungsbeitrag ausreichen, um die Durchbrechung des Prinzips der Lastengleichheit zu rechtfertigen.“.
16 Herausforderungen des Sozialstaats, Ffm 1997, S. 92 ff.; siehe auch Walwei, Ulrich/Zika, Gerd, Arbeitsmarktwirkungen einer Senkung der Sozialabgaben, Sozialer Fortschritt 4/2005, S. 77 ff.
17 Andreas Peichl et. al., Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem. Fehlanreize, Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum, Gütersloh 2017, S. 4; dazu Brinkmann, Bastian, „Die Sozialabgaben bevorzugen die Reichen“, Süddeutsche Zeitung v. 29.8.2018
18 Dazu Borchert, aaO (Fn 13), S. 109 f.
19 Von jedem 75. auf jedes vierte Kind; laut jüngsten Analysen des Kinderschutzbundes sind von 13.1 Mio. Kindern sogar rund 4.4 Mio. unterversorgt 6
20 Vgl. „Horizontaler Vergleich 2018“ www.deutscher-familienverband.de/publikationen/fachinformationen/
21 Borchert, aaO (Fn 13), S. 71 ff.
22 Zur Belastung v.a. der jüngeren Beitragszahler und Familien durch steigende Sozialbeiträge siehe Pimpertz/Beznoska (IW), Nettoeinkommenseffekte steigender Beitragssätze zur Sozialversicherung, Köln, Mai 2017
23 Dazu siehe Borchert, J., Wer Kinderarmut sät, wird Altersarmut ernten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/17, S. 87 ff.
24 Lt. Stat BA v. 28.7.2018 ist der Wohnraumkonsum pro Kopf von 36, 8 m² (1990) auf 46,5 m² (2016) gestiegen
25 Pressemitteilung des Umweltbundesamts vom 27.7.2018 -ttps://www.umweltbundesamt.de/daten/private-haushalte-konsum/wohnen
26 Hankel, Wilhelm, Sozialstaat und Nationalismus, in Wiegand (Hg), Sozialstaat am Ende?, Wiesbaden 1994, S. 58 f. 7
27 Z.B. eine universale BürgerFAIRsicherung, dazu Borchert, aaO (Fn. 13), S. 217 ff.
28 William Kapp, Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 19 f.
29 Das sog. „Forsthoff’sche Paradoxon“, Ernst Forsthoff, Der Staat in der Industriegesellschaft, München 1971, S. 25 f.
30 „Trümmerfrauen“, 1 BvR 50/87 = BVerfGE 87, 1
31 „Pflege II“ -1 BvR 1629/94= BVerfGE 103, 242
32 Kingreen, Thorsten, Bestand und Reform des Familienleistungsausgleichs in der Sozialversicherung, SDSRV 57 (2008), 71 ff.; Lenze, Anne, Staatsbürgerversicherung und Verfassung, 2005, 5. 30ff.
33 Alle Details sowie die wichtigsten Verfahrensschriftsätze unter www.elternklagen.de – dort insbesondere unter „Beitragsgerechtigkeit“-„Klagen vor Gericht“
34 §§ 31, 32 Abs. 6 EStG
35 So kritisiert die Staatsrechtlerin Anne Lenze, NZS 2007, Kindererziehung als generativer Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung – Zugleich eine Besprechung der Entscheidung des BSG vom 5. Juli 2006, NZS 2006,
407 (408) das Urteil vom 5.7.2006 – B 12 KR 20/04 R- als „wissenschaftlich unredlich“; methodische Fehler, empirische Defizite sowie weitgehende Unschlüssigkeit attestiert ihr Kollege Christian Seiler, Richterlicher Eigensinn im Sozialversicherungsrecht, NZS 2016, S. 641 ff, in seiner Analyse des Urteils vom 30.9.2015- B 12 KR 15/12 R; siehe ferner die detaillierte Kritik in den Verfassungsbeschwerden, die unter www.elternklagen.de veröffentlicht sind (wie Fn 33) 8
36 §§ 131 ff. SGB XI
37 Beschluss vom 10.10.2017 –B 12 KR 1 19/16 B
38 Dazu Borchert, Fragen zur Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Boecken/Hänlein/ Kruse/Steinmeyer (Hg.), Öffentliche und private Sicherung gegen soziale Risiken, Baden-Baden 2000, S. 130 ff. (Sammelband zu Ehren des 65. Geburtstags Bernd von Maydells)
Hinterlasse einen Kommentar