Siegfried Stresingvon Siegfried Stresing, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbandes e.V. (DFV)

Vorbemerkung: Dieser Bericht mag subjektiv sein und kann kein Protokoll ersetzen. Rücksprachen mit Beteiligten und weiteren Prozessbeobachtern bestätigen aber die Aufzeichnungen.


Hier findet sich der offizielle „Terminbericht“ des Bundessozialgerichts.

Der Vorsitzende freut sich über das große Interesse an der Arbeit des Senats. Doch zunächst muss er noch einige Fragen zum Antrag klären. Gleich zu Beginn gibt es Irritationen hinsichtlich der Senatsbesetzung.

Eine Klage unter Einbeziehung der Arbeitgeberanteile greife in fremde Rechte ein. Angesichts der (umstrittenen) bisherigen Rechtsprechung des BSG nehmen die Kläger diesen Teil heraus um den prozessualen Weg frei zu machen. Dieser Teil wird an anderer Stelle aufzugreifen sein.

Der Vorlageantrag wird aufrechterhalten. Sämtliche Anträge sind der prozessualen Situation geschuldet, dieser muss in der Klage bleiben.

Zur Rückweisung an das Landessozialgericht wegen unzureichender Sachaufklärung (Nichtberücksichtigung maßgeblicher Gutachten) verweist der Vorsitzende auf die dann jahrelange weitere Verzögerung. Er regt an, dass das BSG die Gutachten berücksichtigt. Dr. Borchert erklärt: Sollte das BSG, wie im Urteil 2006 vorgehen, muss dieser Hilfsantrag aufrecht erhalten bleiben.

Die Klagevertreter bitten ausdrücklich um eine eingehende Erörterung der Sach- und Rechtslage. Der Vorsitzende des 12. Senats hält dies nicht für erforderlich.

Die Klagevertreter
Prof. Kingreen freut sich, dass die heutige Verhandlung am Geburtstag seiner Mutter ist. Die Familie Essig stehe für tausende Familien und wir hätten schon vor 10 Jahren hier sitzen müssen. Erstaunlich sei, dass das Landessozialgericht trotz des Urteils 2006 die Revision zugelassen hat. Das eröffnet die Chance, dass der neu besetzte Senat auch neu entscheidet. Maßstab sei das Grundgesetz. Darüber müsse nicht lange diskutiert werden. Er erläutert, warum das Urteil des BVerfG zur Pflegeversicherung übertragbar sei auf die Kranken- und Rentenversicherung. Gegenstand sei heute nicht die Entlastung der Familien durch einen allgemeinen Familienlastenausgleich, sondern einzig und allein die Beendigung einer verfassungswidrigen Belastung von Familien. Daher sei es müßig sich mit der Behauptung aufzuhalten, auf der Leistungsseite gäbe es einen „effektiven Ausgleich“. Wer heute so argumentiert, habe das Urteil des BVerfG nicht gelesen: Beitragsgestaltung während der Erziehungsphase.

Heute ergebe sich die Chance eines effektiven Weges, die Geschichte der Sozialversicherung endlich zu wenden. Das BSG müsse nur anerkennen, dass es ein Urteil des BVerfG gibt. Im Übrigen gelte das Grundgesetz auch für Kinderlose. Ein freiheitlicher Staat hat sich aus private Lebensentwürfe heraus zu halten. Der Sozialstaat aber hat Entscheidungen zu treffen.

Dr. Borchert geht ausführlich auf die unverzeihlichen Rechtsfehler des Urteils BSG 2006 ein. Es seien ausschließlich Literatur / Gutachten der Deutschen Rentenversicherung berücksichtigt worden, und die nicht umfassend. Das sei wissenschaftlich unredlich, ein solches Urteil entspräche niemals den Vorgaben des BVerfG. Auf diese Weise konnte der Blickwinkel in die falsche Richtung gelenkt werden. Er erläutert die Hintergründe der Klage (Anmerkung: siehe hierzu das Buch „Sozialstaatsdämmerung“).

Die Beklagte / Beigeladene
Die Vertreterin der Rentenversicherung vertritt die Auffassung, der Gesetzgeber habe das Urteil des BVerfG 2001 vollständig umgesetzt. Das Urteil des BSG 2006 läge völlig auf der Linie der Rentenversicherung (Anm.: es wurde ja auch nur Literatur von ihnen zu Grunde gelegt), es sei nichts dazu zu sagen. Und dann stellt sie die Welt auf den Kopf:

Kindererziehung ist eine Ersparnis! Wer kinderlos ist und auf Erwerbstätigkeit verzichtet, muss Eigenvorsorge leisten, während eine Mutter Rente aus der Anrechnung der Kinderziehung erhält.
(Zitat: Deutsche Rentenversicherung)

Es geht noch peinlicher: sie „zitiert“ aus Gutachten, kann aber auf Nachfragen der Kläger nach der Quelle ihrer angeblichen Zitate keine Auskunft geben. Kingreen: „Sie werden das auch nicht finden, denn das steht da nicht drin. Sie haben das erfunden!“

Ende der Verhandlung. Beratungspause kann nach Ansicht des Vorsitzenden länger dauern, da das Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt sein muss.

Das Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Die Revision ist erfolglos, der Senat ist von der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Vorschriften nicht überzeugt.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 habe ausschließlich Bindungswirkung auf die Pflegeversicherung, der Beitragszuschlag für Kinderlose sei nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber habe den Spielraum, der ihm für eine generalisierende, typisierende, pauschalisierende Regelung eingeräumt ist, eingehalten.

Auf die Rentenversicherung sei die Entscheidung nicht übertragbar. Die gesetzliche Rentenversicherung weise keine Mindestgeschlossenheit auf. Dazu sei es erforderlich, dass ein wesentlicher Anteil der Kinder Beitragszahler wird. Das Gericht überrascht mit nicht hinterfragbaren Daten, wonach immer weniger Kinder Rentenbeitragszahler würden. Der generative Beitrag sei nicht gleichartig mit dem monetären Beitrag, da er nicht unmittelbar an die Rentnergeneration ausgeschüttet werden kann.

In der Krankenversicherung sei der individuelle Kostenanstieg im Alter nicht zweifelhaft. Maßgeblich sei aber ein Gruppenvergleich. Der Senat kommt zu dem Ergebnis, dass es in der Krankenversicherung zu keiner Umverteilung von der jungen zur alten Generation komme. Dies zu belegen gelingt, indem der Senat der Gruppe der 65plus-Generation (Kosten: 128 Mrd. Euro) die Gruppe der unter 65jährigen (131 Mrd. Euro) gegenüberstellt.

Im Gerichtssaal überall verblüffte Gesichter angesichts dieser neu eingebrachten Daten und der eigenwilligen Kohortenbildung.

In der Begründung geht der Senat sehr ausführlich auf seine Rechtsprechung vom 5. Juli 2006 ein, an der er „trotz der geäußerten Kritik“ festhält. Sehr ausführlich wird der allgemeine Familienlastenausgleich angeführt, bei dessen Gestaltung das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum einräumt.

Auf Nachfrage erklärt der Vorsitzende, dass mit dem schriftlichen Urteil nicht vor Dezember zu rechnen sei. Den Einwand, dass dann die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde in die Weihnachtsfeiertage fällt, will er möglichst berücksichtigen.


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