Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg, Prozessbevollmächtigter

1 . Die Verfassungsbeschwerde des Familienbunds mahnt bei den Sozialversicherungen in erster Linie die Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 GG, in Verbindung mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie in Art. 6 GG an. Worin besteht diese Verletzung?

Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 für die Pflegeversicherung festgehalten, dass es gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt, wenn Versicherte mit Kindern genauso hohe Beiträge zahlen wie Versicherte ohne Kinder. Es geht also nicht darum, dass der Staat finanziell zu wenig für Familien tut, sondern dass das Sozialversicherungsrecht Versicherte mit Kindern strukturell benachteiligt.

2 . Tritt das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss der Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes wirkungsvoll entgegen?

Leider nicht. Schon das Ergebnis der neuen Entscheidung ist kontraintuitiv: Im Pflegeversicherungsrecht hat der Gesetzgeber Kinderziehende beitragsrechtlich wegen der Entscheidung aus 2001 immerhin schon etwas entlastet, aber das soll immer noch nicht genug sein. Im Kranken- und Rentenversicherungsrecht ist hingegen schon das Nichtstun verfassungsrechtlich unbedenklich.

3 . Distanziert sich das Verfassungsgericht hier von seiner früheren Rechtsprechung aus 2001, dem sog. Pflegeversicherungsurteil?

Explizit nicht, aber implizit sehr wohl. Die Maßstäbe des Urteils von 2001 werden im pflegeversicherungsrechtlichen Teil ausführlich rezipiert, im renten- und krankenversicherungsrechtlichen Teil des Beschlusses hingegen gar nicht mehr. Um fachwissenschaftliche Evidenz bemüht sich der Senat anders als 2001 gar nicht mehr; er wollte anders als 2001 noch nicht einmal mündlich verhandeln.

4. Wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

Die Entscheidung ist im kranken- und rentenversicherungsrechtlichen Teil eigenartig lustlos und daher eine echte Enttäuschung, die der Sieg im pflegeversicherungsrechtlichen Teil nur wenig lindern kann. Generell ist rätselhaft, warum die offensichtlich fehlende Geschlechtergerechtigkeit in der Sozialversicherung unter dem Radar der Genderdebatten verläuft. Die Gesellschaft lässt sich derzeit lieber intellektuell öde Debatten zwischen linken Esoteriker:innen und rechten Wutbürger:innen über eine geschlechtergerechte Sprache aufdrängen als sich mit der Lebenssituation alter Frauen zu befassen, denen mit einem dürren Rentenbescheid die Leistungsbilanz ihres Lebens präsentiert wird, das aus zu vielen Jahren Kinderziehung bestand.

Dr. Jürgen Borchert, Rechtsanwalt und Sozialrichter a.d., Prozessbevollmächtigter

1 . Das Verfassungsgericht sieht den Kindererziehungsaufwand durch die Anrechnung der Kindererziehungszeiten im System der Rentenversicherung hinreichend berücksichtigt. Wie sehen Sie das?

Diese Sicht missachtet den grundlegenden, „konstitutiven“ Wert der Kindererziehung: 15 Kinder brauchte man für eine Durchschnitts-Eckrente. Je höher die gleichzeitigen Erwerbsanwartschaften sind, desto geringer ist die Bewertung der Kindererziehungszeiten. „Babyjahre“ sind als Lückenfüller konzipiert und gehen vom Primat der Erwerbstätigkeit aus.

2 . Welche Auswirkung hat die Entscheidung des Gerichts auf die materielle Situation von Familien in Deutschland?

Das Bundesverfassungsgericht spricht selbst die „erdrosselnde Wirkung“ der Sozialbeiträge an. Diese werden in den kommenden 30 Jahren enorm steigen – und damit ist die Armutsexplosion bei Mehrkinderfamilien vorprogrammiert. Dass das Gericht den Familien empfiehlt, doch Hartz IV-Leistungen in Anspruch zu nehmen, die bekanntlich verheerende Auswirkungen auf die Entwicklungschancen der Kinder haben, unterstreicht die judikative Ignoranz und Willkür, die diesen Beschluss prägt.

3 . Darf sich die Politik auf diesem Gerichtsbeschluss ausruhen?

Dass die doppelte Kinderarmut – Halbierung der Geburtenzahl und Versechzehnfachung des Anteils der Kinder in Armut mit stark steigender Tendenz – unsere Zukunft untergräbt, ist evident. Aber das Gericht hat die Bemühungen der Politik ausdrücklich als mindestens ausreichend anerkannt und die konträre Beurteilung der zuständigen Fachwissenschaftler mit keinem Wort erwähnt. Das kann und wird die Politik nur allzu bereitwillig als Aufforderung zu einem „Weiter so!“ begreifen, denn Kinder sind schließlich keine Wähler, die Alten dagegen umso mehr…

4. Wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

Man kann Recht auch durch Verdrehung der Tatsachen beugen, wie es hier passiert ist. Allein die Tatsache, dass das Gericht sich von zahlreichen früheren Grundsatzentscheidungen verabschiedet hat und bei Fragen von elementarem Gewicht für rund 90 Prozent der Bevölkerung eine mündliche Verhandlung gescheut hat, ist eine Schande von rechtshistorischer Bedeutung für die Justiz.

Prof. Dr. jur. Anne Lenze, Hochschule Darmstadt

1 . „Eine Ohrfeige für Mütter zum Vatertag“ nannte der Prozessbevollmächtigte Thorsten Kingreen den am 25. Mai veröffentlichten Verfassungsgerichtsbeschluss. Warum?

Dieser Spruch ist zwar griffig und plakativ, trifft den Sachverhalt meiner Meinung aber eigentlich nicht ganz: Die Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung setzt Gerechtigkeit für Eltern um, lässt gerade die alte, sozialfürsorgerische Kompensationspolitik für Mütter hinter sich und ist damit auch offen für alle Familienmodelle.

2 .  Welche Hoffnung haben Sie in das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Verhinderung von Kinderarmut gesetzt?

Die Zahlen zum horizontalen Vergleich sind derartig evident, dass ich erwartet hatte, dass das Bundesverfassungsgericht den Zusammenhang von Verbeitragung des Kindesunterhaltes und Kinderarmut erkennen würde. Eine Sozialversicherung, die die Verarmung von Familien billigend in Kauf nimmt, muss in ihren Grundstrukturen neu aufgestellt werden.

3 . Wurde die Chance, das System der Rentenversicherung nachhaltig und familiengerecht zu verändern, endgültig verpasst?

Ob es sich hier um die Endgültigkeit handelt, weiß ich nicht. Zumindest derzeit ist nicht absehbar, dass die Politik ohne die entsprechende Nachhilfe aus Karlsruhe von sich aus eine nachhaltige und familiengerechte Alterssicherung ins Werk setzen wird. Vielleicht aber braucht es die absehbare Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme, um die Bedeutung der Kindererziehung sichtbar zu machen und entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

4 . Wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

Leider hat sich die Vernunft nicht durchgesetzt, sondern die Angst davor, in einer ohnehin krisengeschüttelten Welt einen mutigen Schritt in Richtung einer gerechten sozialen Absicherung der Gesellschaft zu gehen.

Quelle: Familienbund der Katholiken in der Erzdiözese Freiburg (Hrsg.), Forum Familie, Nr. 80, Aug. 2022, S. 8-9.

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