von Siegfried Stresing, Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes e.V. (DFV)

Am 20.07.2017 war es wieder soweit. Das Bundessozialgericht in Kassel verhandelte die Revision von zwei Familien, die sich durch alle Instanzen gequält haben und sich nun, zusammen mit ihren Bevollmächtigten Prof. Kingreen und Dr. Borchert, auf den Weg nach Kassel machten.

Ein Mann – zwei sich widersprechende Erkenntnisse

Im Gepäck hatten sie, neben dicken Ordnern, auch einen Zeitungsartikel vom 16.05.2017. „Wir sollten uns fragen, ob es möglich ist, Familien oder Eltern in der Sozialversicherung stärker zu entlasten“, hatte der Präsident des Bundessozialgerichts Rainer Schlegel vor der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung gefordert. Der Staat habe sich möglichst dort herauszuhalten, wo er auf funktionierende, natürliche Sozialgemeinschaften treffe und habe alles zu unterlassen, was Gemeinschaften, wie etwa Familien, schwäche. Laut FAZ läge es nahe, dass der oberste Sozialrichter eine Lösung nicht nur in der Pflegeversicherung, sondern auch in der Renten- und Krankenversicherung für möglich hält. „Konkret äußerte sich der frühere Abteilungsleiter im Sozialministerium dazu nicht“.

Die Familien konnten es, ebenso wie die etlichen anwesenden Journalisten und Experten, nicht fassen, dass dies der gleiche Rainer Schlegel sein könnte, der wenige Wochen später das Urteil des 12. Senats verkündete. Die mündliche Urteilbegründung war so hanebüchen, dass alle zunächst das schriftliche Urteil abwarteten. Seit wenigen Tagen liegt es vor. Es mag Zufall sein, dass das Gericht erneut 4 Monate für das schriftliche Urteil benötigte und die, zumindest im Fall der Familie Stephan S., allfällige Verfassungsbeschwerde wiederum in der Adventszeit zu schreiben ist.

Erneut ein skandalöses Urteil

Das Bundessozialgericht verkennt zwar nicht, „dass Versicherte mit Kindern in der GRV – ebenso wie in der sozialen Pflegeversicherung – anders als Versicherte ohne Kinder nicht nur einen pekunären, sondern auch einen generativen Beitrag leisten, der für das Funktionieren des Umlageverfahrens unabdingbar ist“. Für die fehlende Differenzierung im Beitragsrecht der GRV gäbe es aber hinreichende sachliche Gründe, der Gesetzgeber habe insoweit die äußersten Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit gewahrt.

Das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtige die generative Leistung „in Form verschiedener familienfördernder Elemente zugunsten Versicherter mit Kindern … wie etwa dem Steuerrecht“. „Der Senat ist davon überzeugt, dass der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums gesellschaftliche Entwicklungen gerade auch mit Blick auf Familien und deren Bedürfnisse berücksichtigt“ und gewährleiste eine verfassungsgemäße Behandlung auch der Versicherten mit Kindern. Sie müssten durch den Gesetzgeber nicht durch familienfördernde Leistungen „auf Euro und Cent“ so gestellt werden, als hätten sie keine Kinder. Wer eine solche Forderung aufgestellt habe, sagt das Gericht nicht – die Kläger zumindest haben das nie gefordert.

An anderer Stelle führt das Gericht ausdrücklich das Kindergeld und die steuerlichen Kinderfreibeträge an. Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.05.1990 – 1 BvL 20/84 zum Kindergeld ergibt sich aber, dass weder das Kindergeld noch der steuerliche Kinderfreibetrag in sachlicher Beziehung zum Alterssicherungssystem steht.

Offene Missachtung der Verfassungsjudikatur

Das BSG setzt sich weder mit den Ausführungen des BVerfG zur „transferrechtlichen Betrachtung“, aus welcher sich im Ergebnis ein Transfer von Familien mit mehreren Kindern an die „ohnehin schon besser gestellten Familien mit nur einem Kind und Kinderlose“ nachweisen lässt, noch mit der dort ausdrücklich als mit Art. 14 GG vereinbar angesehenen „maßvollen Umverteilung von Rentenanwartschaften Kinderloser auf Eltern“ auseinander.

Prof. Dr. Christian Seiler hatte sich schon zum Urteil des BSG 30.09.2015 äußerst kritisch geäußert: Das Gericht „hat sich zwar eingehend mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts … befasst, die verfassungsrechtlich formulierten Maßstäbe aber doch recht unverblümt abgelehnt.“ Es „hätte die ihm vorgegebene Grundgesetzauslegung des Bundesverfassungsgerichts entweder akzeptieren oder im Wege einer Vorlage … zur erneuten Überprüfung stellen müssen.“ (Richterlicher Eigensinn im Sozialversicherungsrecht).

Auch Prof. Anne Lenze fand dazu deutliche Worte: „Ausführlich geht das BSG auf ´familienentlastende Leistungen´ ein und ignoriert damit den wichtigsten Grundsatz der Entscheidung zur Pflegeversicherung aus 2001, wonach der Beitrag der Kindererziehung erstens ´innerhalb des Systems´, zweitens zwischen Kinderlosen und Eltern und drittens ´während der Zeit der Erziehung´ vorzunehmen ist.“ Lenze stellt in aller Klarheit fest: „Offensichtlich befindet sich der 12. Senat in offenem Widerspruch zu den Grundsätzen des BVerfG in seiner Entscheidung vom 3. April 2001 – dies aber hätte eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG erforderlich gemacht.“ (Auf ein Neues: Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung).

Doch auch dieses Urteil hat etwas Positives: Für Familie Stephan S. ist nun der Weg durch die Instanzen erschöpft. Der Endspurt kann mit der Verfassungsbeschwerde eingeleitet werden. In der Hoffnung, dass sich das Bundesverfassungsgericht treu bleibt und den Gesetzgeber zum Handeln zwingt.


Siegfried Stresing ist Vater von fünf Kindern, Sozialarbeiter und Betriebswirt. Stresing ist seit über 25 Jahren in der Familienpolitik tätig und ist Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes e.V. (DFV). 


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