Jürgen Borchert, war engagierter SozialrichterDr. Jürgen Borchert. Fast 30 Jahre war er Richter am Hessischen Landessozialgericht. Den Zustand unseres Sozialstaates bezeichnet er als „desaströs“. Familien mit Kinder hält er nach wie vor für benachteiligt und Hartz IV für ungerecht. Ende letzten Jahres ist er in den Ruhestand gegangen. Für seine Überzeugung kämpft Jürgen Borchert weiter.
In seinem neuesten Buch „Sozialstaatsdämmerung“ (Dezember 2014) werden viele Aspekte der Kampagne „Elternklagen“ allgemeinverständlich behandelt.

Brief an den
Deutschen Familienverband e.V. (DFV)
Familienbund der Katholiken (FDK)

Die Nachricht begeistert mich: Endlich ist der Startschuss für den ersten ELTERNAUFSTAND in der Geschichte der Bundesrepublik gefallen! Er ist überfällig. Viel zu lange haben Eltern es sich bieten lassen, von der Politik nach Strich und Faden belogen und durch die Sozialgesetzgebung um die Früchte ihrer Erziehungsarbeit betrogen zu werden. Dass die Politik selbst die bindenden Gesetzgebungsaufträge des Bundesverfassungsgerichts, die unverzichtbare Elternarbeit in den Sozialsystemen den Geldbeiträgen gleichwertig zu berücksichtigen, wie feuchten Kehricht behandelt, macht massenhaften Widerstand zur Pflicht.

Es ist auch richtig, den ersten Schritt wieder auf dem Rechtsweg zu unternehmen. Denn nur das Bundesverfassungsgericht hat nach unserer Verfassung die Macht, der Willkür des Gesetzgebers Einhalt zu gebieten, wenn dieser die Interessen der Nachwuchsgeneration und der 20-Prozent –Minderheit, zu welcher Familienhaushalte mit unterhaltsberechtigten Kindern mittlerweile geschrumpft sind, Jahr um Jahr systematisch übergeht und die Grundrechte von Eltern und Kindern mit Füßen tritt. Und nur das Bundesverfassungsgericht hat die Macht, seiner eigenen Rechtsprechung den gebotenen Respekt zu verschaffen –und auch die Pflicht! Aber: wo kein Kläger, da kein Richter. Deshalb sind Massenklagen richtig und überfällig, denn sie signalisieren allen drei Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative -, dass die Familien das Unrecht in Massen kapieren und sich nicht mehr von den legislativen Hütchenspielen übers Ohr hauen lassen.

Familiengerechtigkeit in der Sozialversicherung betrifft keine Kleinigkeit, sondern es geht bei jedem einzelnen Kind um tausende von Euro. Pro Jahr! Selbst die regierenden rot-grünen Bundestagsfraktionen haben anlässlich der parlamentarischen Debatte um das Karlsruher „Beitragskinderurteil“ zur Gesetzlichen Pflegeversicherung den Vorschlag gemacht, doch einfach die Steuerfreibeträge für das Kinderexistenzminimum in den Beitragstarif der Sozialversicherung zu übernehmen (BT-Drucks. 14/8864 v. 24.4.2002, S. 7). Das wären je Kind 7008 €/Jahr, die in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, genau wie bei der Lohnsteuer, deshalb heute beitragsfrei bleiben müssen. Tatsächlich werden auf diese Existenzminima jedoch rund ein Drittel Sozialbeiträge erhoben (einschließlich des sog. Arbeitgeberbeitrags). Je Kind errechnet sich mithin ein Betrag in Höhe von rund 2300 Euro/Jahr, um den Familien verfassungswidrig zu hoch belastet werden. Mindestens! Denn der in Eurem Internetauftritt genannte Betrag von 8000 € ist ja nicht ohne Grund seit langem in der Diskussion.

Weil die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs voraussetzt, führt erst einmal auch kein Weg an den Sozialgerichten vorbei. Dies ist nicht zuletzt notwendig, weil der Gesetzgeber mit dem Pflegevorsorgefonds ab 1.1.2015 die schlimme Spirale der Verletzung elterlicher Grundrechte ein weiteres Mal gedreht hat.

Dieser Weg über die Sozialgerichte nach Karlsruhe ist lang, aber kostenfrei und klägerfreundlich. In den ersten beiden Instanzen – beim Sozial- und beim Landessozialgericht – besteht kein Anwaltszwang. Außerdem haben sich die Gerichte schützend vor die Recht suchenden Bürger zu stellen und das Begehren der Kläger von Amts wegen stets nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auszulegen; entscheidungserhebliche Tatsachen haben sie bei unklaren Sachlagen gegebenenfalls von sich aus aufzuklären. Anders als bei den Einzelklagen, die den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 1992 und 2001 zugrunde lagen, liegen heute aber die vom Bundesverfassungsgericht 2001 dem Gesetzgeber abverlangten Prüf-Gutachten zur Situation der Familien in den streitgegenständlichen Sozialversicherungssystemen vor (v.a. „Werding“ und „Niehaus“, die ja auf der Website www.elternklagen.de abrufbar sind).

Dennoch darf man sicher nicht davon ausgehen, dass die Sozialgerichtsbarkeit deshalb die Grundrechtsfragen der Familien mit Nachdruck zu beantworten neigen.

Nur beim Sozialgericht Freiburg haben die erstinstanzlichen Richter anno 1987 und 1988 von sich aus ohne großes Wenn und Aber zur Beschleunigung beigetragen, indem sie die Sprungrevision beim Bundessozialgericht unter Überspringen des Landessozialgerichts zuließen (Folge; „Trümmerfrauenurteil“ 1992). Das war das einzige Mal und es blieb die Ausnahme. Naheliegend ist, dass die Sozialgerichte versuchen werden, mit Verweis auf die derzeit laufenden Verfahren beim Bundessozialgericht von den Klägern das Einverständnis zu erlangen, die Klagen bis zum Abschluss dieser höchstrichterlichen Fälle ruhen zu lassen. Dieses Einverständnis ist zu verweigern, denn das Ruhen nimmt jeden Druck aus den Verfahren. Dass die bisherigen Musterklagen sich bereits seit 10 Jahren und länger hinziehen, beruht nicht zuletzt auf dem Umstand, dass es Einzelverfahren waren, deren zögerliche bis widerwillige Behandlung kaum auffiel.

Der Kampf um das Recht wird für die Familien gewiss kein Zuckerschlecken. Die Misere hat ja ursächlich auch damit zu tun, dass Abgeordnete, Beamte und Richter nicht sozialversichert sind. Sie wissen deshalb auch überhaupt nicht, wie sich der riesige Abgabenkeil zwischen Brutto und Netto anfühlt (einschließlich des sog. „Arbeitgeberanteils“, der unbestritten vorenthaltener Lohn ist, vgl. § 275 Abs. 2 Nr. 6 Handelsgesetzbuch), der Familienfinanzen stranguliert. Deshalb fehlt es von vornherein an Empathie. Aber die Massenklagen werden dazu führen, dass die Probleme bekannter werden – und das ist stets der erste Schritt der politischen Einflussnahme.

Wichtig ist, dass die Kläger wissen, dass Gerichtskosten nicht anfallen, in den ersten beiden Instanzen kein Anwalt nötig ist und sie keinerlei Nachteile befürchten müssen.

Wünsche viel Erfolg und grüße herzlich!
Jürgen Borchert

Hier geht es zu der Sendung „Leute heute


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