Der Aufstand der Familien ist ins Rollen gekommen und zeigt erste Wirkung. Zum Bericht im Focus hat der  Vorsitzende des verhandelnden Senats beim Bundessozialgerichts eine Pressemitteilung herausgegeben.

Darin wird deutlich, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht mit den Klagen befassen wird. Bis dahin haben wir noch viel zu tun. Denn, im Gegensatz zur richtigen Überschrift im Focus, geht der Vorsitzende davon aus, dass die Familien eine teilweise Befreiung von der Beitragspflicht einklagen.

Familien sind nicht bereit, doppelt zu zahlen: monetäre plus generative Beiträge. Denn Kinderziehung ist für die Gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung mindestens genauso viel wert wie Geldbeiträge („beitragsäquivalent“). In der Konsequenz bedeutet das natürlich eine Beitragsreduzierung. Aber Familien sind keine Bittsteller, sondern kämpfen gegen die Verletzung ihrer verfassungsrechtlich verbrieften Rechte.

Machen Sie mit. Es muss deutlich werden: viele Millionen Familien zahlen doppelt, das Maß ist voll!

Die Pressemitteilung des Bundessozialgerichtes im Wortlaut:

zum Bericht im Magazin „Focus“ 7/2015 S 22 „Sozialbeiträge – Familien sollen nicht doppelt zahlen“

  1. Beim 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG; Senatszuständigkeit für Fragen des Versicherungs- und Beitragsrechts der Sozialversicherung) sind gegenwärtig drei Revisionsverfahren zum Thema anhängig „Beitragsmindernde Berücksichtigung des Elternunterhalts sowie von Erziehungs- und Betreuungsleistungen für Kinder bei der Beitragsbemessung in der sozialen Pflegeversicherung (sPV), der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV)?“. Es handelt sich im Einzelnen um die – jeweils gegen die Krankenkassen als Einzugsstellen des Gesamtsozialversicherungsbeitrags gerichteten – Verfahren zu folgenden Aktenzeichen
  • B 12 KR 5/12 R (Vorinstanz: Landessozialgericht <LSG> Baden-Württemberg, Urteil vom 1.2012 – L 4 KR 4537/10 Beklagte: Barmer GEK)
  • B 12 KR 6/12 R (Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.1.2012 – L 4 KR 3984/10 Beklagte: Securvita BKK)
  • B 12 KR 15/12 R (Vorinstanz: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.4.2012 – L 11 KR 3416/10; Beklagte: DAK Gesundheit)

Ein weiteres beim BSG unter dem Aktenzeichen B 12 KR 13/13 R anhängiges Revisionsverfahren (Vorinstanz LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.3.2013 – L 4 KR 4983/10 (Beklagte: AOK Baden-Württemberg – Die Gesundheitskasse) beschäftigt sich mit der Thematik allein bezogen auf die sPV. Die Verfahren B 12 KR 5/12 R und B 12 KR 6/12 R ruhen derzeit. Der 12. Senat behandelt in Abstimmung mit den Beteiligten das Verfahren B 12 KR 15/12 R als Musterverfahren.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen können in juristischen Datenbanken abgerufen werden.

Die Kläger machen in den Verfahren im Kern jeweils geltend, dass – ähnlich wie im Einkommensteuerrecht geregelt – aus verfassungsrechtlichen Gründen eine an den familiären Aufwand für Kinder anknüpfende Komponente abgabenmindernd Berücksichtigung finden muss; die Entlastung in der sPV wird nicht als ausreichend angesehen. Die Sozialversicherungsträger verweisen auf die Entlastung von Eltern mit Kindern durch vielfältige Regelungen des Familienleistungs- und Familienlastenausgleichs und den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.

  1. Ein genauer Termin zur mündlichen Verhandlung beim 12. Senat des BSG steht noch nicht fest. Der Termin wird – der Bitte eines Prozessbevollmächtigten eines Beteiligten entsprechend – nicht vor September 2015 stattfinden.
  1. Letztlich wird der 12. Senat des BSG voraussichtlich zu beurteilen haben, ob die einschlägigen aktuell geltenden gesetzlichen Vorschriften im Beitragsrecht der GKV, sPV und GRV mit den (höherrangigen) Vorgaben des Grundgesetzes vereinbar sind, insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs 1 und mit dem durch Artikel 6 Abs 1 garantierten besonderen Schutz der Familie. Bedeutsam wird insbesondere sein, ob bzw inwieweit die Entscheidung des BVerfG zur Berücksichtigung des Aufwandes für Kinder in der sPV (BVerfG, Urteil vom 3.4.2001 – 1 BvR 1629/94 – BVerfGE 103, 242 = SozR 3-3300 § 54 Nr 2) auf die beiden anderen Sozialversicherungszweige zu übertragen ist. Diese damalige Entscheidung des BVerfG hat dazu geführt, dass aktuell in der sPV für Kinderlose ein Zusatzbeitrag von 0,25% erhoben wird.
  1. Der 12. Senat des BSG hat in der Vergangenheit bereits mit Urteil vom 5.7.2006 – B 12 KR 20/04 R – (SozR 4-2600 § 157 Nr 1 RdNr 40 ff) für den Bereich der GRV entschieden, dass es das Grundgesetz nicht gebietet, Eltern um den Aufwand, den sie für ihre Kinder zu tragen haben, teilweise von der Pflicht zur Beitragstragung zu befreien bzw die Beitragshöhe zu mindern. Diese Rechtsprechung wird von den Revisionsklägern nun erneut auf den Prüfstand gestellt.
  1. Die vom 12. Senat des BSG zu treffende Entscheidung wird sicherlich auch für zahlreiche Parallelfälle von Bedeutung sein. Jedoch kann angenommen werden, dass sich – unabhängig vom Verfahrensausgang beim BSG – auch das BVerfG in Karlsruhe mit diesen Fragen befassen wird: Sollte der 12. Senat der Auffassung der Kläger hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit folgen, müsste er das Revisionsverfahren aussetzen und die Sache dem BVerfG nach Artikel 100 Grundgesetz zur Entscheidung vorlegen. Im Falle eines Unterliegens der Kläger beim BSG haben diese die Möglichkeit, das BVerfG mit einer Verfassungsbeschwerde anzurufen.
  1. Zum möglichen Inhalt zukünftiger Entscheidungen des BSG können darüber hinaus Auskünfte nicht gegeben werden.

Dr. Hans-Jürgen Kretschmer
Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht