Das Jahresende ist nicht nur Anlass zur Rückschau, sondern vor allem auch Vorausschau auf das kommende Jahr. Nach dem beliebten Klassiker „The same procedure as every year“ werden politische Pflichtprogramme wie Wohltaten verkauft.

So auch das vor wenigen Tagen verabschiedete „Zweite Gesetz zur steuerlichen Entlastung von Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen“. Und sicher dürfen Familien für das kommende Jahr noch weitere fördernde Worte ohne folgende Taten vernehmen. Denn auch im Wahljahr 2021 ist bspw. im Entwurf des CDU-Grundsatzprogrammes erneut vorgesehen, dass Familien mit minderjährigen Kindern im Haushalt von einem Teil der Sozialversicherungsbeiträge entsprechend der Kinderzahl entlastet werden sollen, z.B. durch einen Freibetrag.

Familien glauben solchen Sonntagsreden nicht mehr. Mehr als 2.000 Familien haben sich, mit Unterstützung des Deutschen Familienverbandes, auf den Weg durch die Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht gemacht und hoffen, dass das Gericht nach vielen Jahren endlich Recht sprechen wird. Bereits 2019 und 2020 stand die Berücksichtigung des generativen Beitrags in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung auf dem Jahresplan des Bundesverfassungsgerichts.

Nun kommen aber Studien mit teilweise unseriösen Behauptungen und Schlagworten hinzu, die vom eigentlichen Problemfall, einer durch und durch reformbedürftigen gesetzlichen Sozialversicherung, ablenken.

Studie des Ifo-Instituts: „Wenn es sich nicht lohnt, mehr zu arbeiten“ – Eine kritische Analyse

Die FAZ titelte am 17.11.2020 unter Berufung auf eine Studie des Ifo-Instituts: „Wenn es sich nicht lohnt, mehr zu arbeiten“. Selbst Laien fällt beim ersten Blick in diese Studie auf: bei den Transferleistungen wurde ein Kindergeld für das gesamte (untersuchte) Jahr 2019 in der Höhe zugrunde gelegt, wie es erst im 2. Halbjahr galt.

Zudem fällt sofort auf: Alleinerziehenden verbleibt bei Vollzeiterwerbtätigkeit ein relativ hohes Nettoeinkommen.

Ist das seriös?

Dem nachzugehen, war eine große Herausforderung. Nicht näher analysiert wird dabei der Teil der Studie, der sich mit der „effective marginal tax rate“ (EMTR) befasst. Der Frage: Auf was muss ich verzichten, um höhere Transferleistungen zu bekommen oder einen anderen nichtmonetären Gewinn zu erzielen, mögen andere nachgehen.

Unser Verständnis beruht auf Erfahrungen, dass sich die Mehrheit der Bundesbürger dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet fühlen und versuchen, zunächst eigene Ressourcen einzusetzen, bevor die Gemeinschaft eintritt.

Zudem ist es zu einfach so zu tun, als hätten Menschen mit niedrigem Einkommen die freie Wahl, auch nur auf einen zusätzlichen Euro zu verzichten, mit dem Gewinn von mehr Freiheit. Sie können sich diese Freiheit schlicht nicht leisten. „Prekäre Beschäftigungsverhältnisse“ sind meist nicht das Ergebnis einer freien Wahl, sondern, unter den herrschenden Bedingungen, oft die einzige Chance, überhaupt im Beruf zu bleiben.

Doch der Reihe nach.

In der folgenden Analyse wurden die in der Studie verwendeten Größen aufgegriffen:

Haushalte:
– Alleinstehende
– Paar ohne Kinder und Paar mit 2 Kinder
– Alleinerziehende mit 2 Kindern

Bruttojahreseinkommen:
41.600 €, 56.800 €, 83.200 €, 119.200 €
erzielt durch:
– einen Alleinverdiener,
– zu gleichen Teilen von beiden Partnern
– mit einem Partnereinkommen 36.000 € bzw. 48.000 €

A. Ehegattensplitting im Steuersystem

Besonders auffällig ist eine von der Nachrichtenagentur Reuters verbreitete, von der FAZ und weiteren Zeitschriften und Zeitungen unkritisch übernommene These, „Zweitverdienende“ würden wegen des Ehegattensplittings[1] im Steuersystem sehr hoch belastet.

Nachstehende Grafik zeigt: Diese Behauptung ist, bei einer Betrachtung des Haushaltseinkommens, falsch.

Wer einer (angeblichen!) „Bestrafung durch das Ehegattensplitting“ entgehen will, wird in der Studie fündig. Statt mit dem gemeinsamen Erwerb gemeinsam zu wirtschaften, kann das Paar die getrennte Individualbesteuerung durchführen lassen:

Bei der Individualbesteuerung würde der:die[2] Zweitverdiener:in zunächst auf das eigene Bruttoeinkommen keine Steuer bezahlen, da der Grundfreibetrag individuell gelten würde. Darüber hinaus würde das individuelle Einkommen erst mit dem Einstiegssteiersatz von ca. 14% und dann mit allmählich ansteigendem Steuersatz besteuert“.

Wenn da nicht die kleine Fußnote wäre:

Im Gegenzug wäre bei einer Individualbesteuerung, ohne weitere Anpassung des Steuertarifs, die Steuer des Hauptverdieners höher“. Um wieviel, wird in der Studie verschwiegen. Dem kann abgeholfen werden:

Von Wissenschaft wird erwartet, neutral zu sein. Wer wollte reinen Zahlen auch unterstellen, sie seien nicht neutral?

Doch in dem Moment, wenn Wertungen wie „lohnen“ oder „bestrafen“ hinzukommen, werden aus Zahlen Meinungen. Wird unter Ehe der Zusammenschluss zweier Personen verstanden, die ausschließlich ihren individuellen „Vorteil“ sehen, dem dann eben ein „Nachteil“ oder gar eine „Bestrafung“ des Partners gegenüber steht? Oder handelt es sich bei der Ehe um eine auf Dauer angelegte, in gegenseitiger Verantwortung geschlossene Gemeinschaft, in der die Partner in Freiheit selbst entscheiden, wie sie Erwerbs-, Haushalts- und Erziehungsarbeit untereinander aufteilen und mit den Einnahmen beider Partner gemeinschaftlich wirtschaften?

B. Sozialversicherung – Belastung nach Leistungsfähigkeit?

Leider wird das eigentliche Problem in der Studie nur angedeutet:

Aufgrund der Progressivität der Einkommensteuer nimmt die Grenzsteuer in Deutschland tendenziell zu. Diese Aussage relativiert sich jedoch, sobald die Sozialversicherungsbeiträge mitbetrachtet werden“.

Warum wird dann die regressive Wirkung der Sozialversicherung nicht näher beleuchtet? Allein die – auch in der Studie beschriebene – Tatsache, dass die Grenzbelastung der Sozialversicherung ab der Beitragsbemessungsgrenze gleich 0 % ist, weist den Weg. Nach der Gleitzone schlägt die Sozialversicherung ohne jegliche Differenzierung (bis auf einen geringfügigen Kinderlosenaufschlag in der Pflegeversicherung, der aber als Vorsorgeaufwand steuerlich abzugsfähig ist) zu, und kennt lediglich Freibeträge für höhere Einkommen (Beitragsbemessungsgrenze).

Entsprechend nimmt der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge an den Gesamtabgaben mit steigendem Einkommen ab:

C. Fazit

Der Effekt des Ehegattensplittings wird völlig überhöht bzw. falsch dargestellt, wie ein Vergleich Alleinverdiener (höchster Splittingeffekt) zu Paaren mit gleich hohem Verdienst zeigt. Ursächlich für diese Fehleinschätzungen könnte sein, dass die Berechnung des zu versteuernden Einkommens (zvE) unbekannt ist. Der anerkannte Vorsorgeaufwand ist bei zwei Verdienern höher als beim Alleinverdiener und senkt das zvE.

Nicht das Ehegattensplitting ist ursächlich dafür, wenn ein Alleinverdienerhaushalt mehr Netto behält als ein Haushalt, bei dem das gleiche Brutto durch eine Erwerbsbeteiligung der Partner gemeinsam erzielt wird. Das dies erst bei höheren Einkommen der Fall ist, zeigt die Tabelle „Brutto-Netto“.

Das Problem liegt in Sozialversicherungsbeiträgen, die nicht nach Leistungsfähigkeit erhoben werden.

Familienförderung

Besonders spannend wird es, wenn die IFO-Studie den Anspruch erhebt zu zeigen, „dass sich die Partizipationssteuersätze aufgrund der komplexen Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems stark entlang demografischer Haushaltsmerkmale wie dem Ehestatus und der Kinderzahl unterscheiden.

Die Tabellen der Studie sind hier nur bedingt brauchbar, da die Haushaltseinkommen nur in wenigen Kon­stellationen vergleichbar sind. Wir haben die fehlenden Angaben ergänzt in der Tabelle „Brutto-Netto“.

A. Die besondere Situation Alleinerziehender

Auf den ersten Blick fällt bei den Rechnungen des IFO-Instituts auf: bei einem Brutto von 41.600 € verbleiben dem Single Netto 26.405 €, der Alleinerziehenden mit 2 Kinder 36.400 € und dem Ehepaar mit 2 Kinder, Brutto gleichberechtigt je 50 %, nur 35.251 €. Des Rätsels Lösung: Die Wissenschaftler des ifo-Instituts haben bei der Alleinerziehenden Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zum Haushaltseinkommen gerechnet.

Das wird nach Auffassung des DFV der besonderen Situation Alleinerziehender nicht gerecht. Bei Paarfamilien sind Unterhaltsströme, Aufteilung der Kinderfreibeträge und das Kindergeld (mit wenigen Ausnahmen) allgemein gültig. Alleinerziehende dagegen leben in sehr unterschiedlichen Realitäten. Nur eines lässt sich allgemein gültig feststellen: es macht keinen Sinn, Familien gegen Familien aufzurechnen. Vergleich von Lohnsteuerklassen, die lediglich ein Hilfsmittel für die Abführung der monatlichen Lohnsteuer sind, lenken ebenso von den ursächlichen Problemen ab wie die Annahme, die staatliche Gemeinschaft übernehme Unterhaltsaufwendungen für Kinder.

Exkurs: Entlastungsbetrag für Alleinerziehende

Allen Personen, die alleinstehend waren und mindestens ein Kind zu erziehen hatten, wurde bis 2004 ein Haushaltsfreibetrag gewährt, mit dem die erheblichen Belastungen, die bei der Kindererziehung entstehen, zumindest teilweise ausgeglichen werden sollten.

In der Höhe entsprach dieser Freibetrag dem Existenzminimum (Grundfreibetrag) eines Erwachsenen. Dann klagte ein Ehepaar vor dem Bundesverfassungsgericht. Denn trotz Ehegattensplitting zahlten die plötzlich mehr Steuern als vor der Eheschließung, da der Haushaltsfreibetrag weg fiel. Der Haushaltsfreibetrag wurde abgeschafft und durch den Alleinerziehendenentlastungsbetrag ersetzt, der nur „echten“ Alleinerziehenden zusteht und in der Höhe völlig dem politischen Gestaltungwillen unterliegt.

2019 betrug er bei einem Kind 1.908 €/Jahr, plus 240 €/Jahr für jedes weitere Kind. Wegen besonderer Belastungen 2020 und 2021 wurde der Betrag für das erste Kind auf 4.008 € angehoben, der Ergänzungsbetrag für weitere Kinder blieb unverändert. Damit erreicht er, wie vom DFV seit Jahren angeregt, annähernd den Grundfreibetrag eines (fiktiven) Erwachsenen.

B. Existenzminimum

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss dem Steuerpflichtigen nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen zumindest so viel verbleiben, wie er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG – desjenigen seiner Familie bedarf (Existenzminimum). Entsprechend eines Beschlusses des Bundestages aus 1995 legt die Bundesregierung daher alle zwei Jahre einen Bericht über die Höhe des von der Einkommen­steuer freizustellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kinder vor.

Kritik an diesem Bericht ist durchaus angebracht. Ist es realitätsnah, im Rahmen einer Typisierung für die gesamte Bundesrepublik eine Bruttokaltmiete von derzeit 7,40 €/qm anzunehmen, und für ein Kind einen Bedarf von 12 qm anzuerkennen? Ungeachtet einer derartigen (notwendigen!) Diskussion betragen die Existenzminima 2020 für Erwachsene 9.408 € und für Kinder 7.812 €.

Stehen den Erwerbstätigen diese Existenzminima, die Beteiligung an der Gesellschaft im Hier und Jetzt, vom selbst Erwirtschafteten tatsächlich zur Verfügung? Eine Antwort gibt die Berechnung des nach Deckung der Existenzminima verbleibenden frei verfügbaren Einkommens:

Einer 5-köpfigen Familie mit Durchschnittseinkommen bleibt vom Brutto, trotz Kindergeld, nicht einmal das Existenzminimum zur Verfügung.

Dieser Problematik wird die „Familienförderung“ entgegengehalten, die laut Evaluationsbericht mehr als 200 Mrd. Euro jährlich umfasst. Wie der DFV in einer Analyse dieser „Fördermilliarden“ feststellte, wird diese Höhe auch vom Bundesfamilienministerium, trotz besseren Wissens, ständig wiederholt.

Tatsächlich findet sich im § 31 Einkommensteuergesetz unter dem Titel „Familienleistungsausgleich“ die bemerkenswerte Feststellung, dass das Kindergeld der „Förderung der Familie“ diene. Wäre da nicht die Einschränkung „soweit es nicht der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes“ dient.

Die nachfolgende Grafik zeigt, dass die Förderung durch das Kindergeld mit wachsendem Einkommen sinkt. Es scheint so, als ob „kein Kindergeld für hohe Einkommen“ realisiert würde. Allerdings dürfen Einkommen, in denen ein negativer Förderanteil verzeichnet wird, mit einer, zusätzlich zum Kindergeld verfassungsrechtlich gebotenen, Steuerrückzahlung rechnen. Manche sprechen von der „Rückgabe von Diebesgut“.

Der Frage, wann von „hohen Einkommen“ in Relation zu „Kinderreichtum“ zu sprechen ist, wird an anderer Stelle nachgegangen.

Zusammenfassung

Wichtiger als neue Studien ist die Besinnung darauf, was unsere Gesellschaft zusammenhält. „Lohnen“ und „Bestrafen“ sind dabei wenig geeignete Kriterien. Subsidiarität, Solidarität, Verantwortung dürfen nicht im Regal der Fremdwörterlexika verschwinden.

Demnächst wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts drüber erwartet, ob Beiträge zu gesetzlichen Sozialversicherungen mit Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit), Art. 3 Abs. 1 GG (allgemeiner Gleichheitssatz), Art. 6 Abs. 1 GG (Grundrecht auf Schutz und Fürsorge) Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 GG (Leistungsfähigkeitsprinzip, Sozialstaatsprinzip, Transparenz- und Wahrheitsgebot sowie Systemgerechtigkeit) vereinbar sind.

Mitlieder dieser Sozialversicherungen, die Kinder betreuen und erziehen, werden nicht entsprechend ihrer verminderten Leistungsfähigkeit sowie entsprechend der Gleichwertigkeit von monetären und generativen Beiträgen während der Zeit der Kindererziehung bei den Geldbeiträgen entlastet. Sie werden (mit Ausnahme eines geringen „Kinderlosenzuschlags“ in der sozialen Pflegeversicherung) mit einem gleich hohen Geldbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet. Dabei werden auch die familienrechtlich den Kindern als Unterhalt geschuldeten Einkommensanteile, sogar einschließlich der darin enthaltenen Existenzminima der Kinder, der vollen Beitragslast unterworfen.

Auf der Basis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werden sodann politische Schlussfolgerungen zu ziehen sein, die auch der Frage nachgehen können, welche individuellen Entscheidungen sich für wen lohnen.

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“
Böckenförde-Diktum


Berlin, im Dezember 2020

Siegfried Stresing, Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes e.V. (DFV)

Zur Person:
– einst jüngster Finanzbeamter in Baden-Württemberg
– Dipl. Sozialarbeiter (FH. Dipl. Betriebswirt VWA)
– 18 Jahre hauptamtlicher Geschäftsführer des Landesfamilienrates Baden-Württemberg
– 10 Jahre hauptamtlicher Bundesgeschäftsführer des DFV, seit 3 Jahren ehrenamtlicher Vizepräsident des DFV



[1] Obwohl das Splittingverfahren auch eingetragenen Lebenspartnerschaften, die keine Ehe eingegangen sind, zusteht, wird diese irreführende Bezeichnung weiterhin benutzt.

[2] Sprache kann nicht alle Individuen repräsentieren. In dieser Analyse wird auf Versuche verzichtet, beide und diverse Geschlechter zu benennen bzw. konsequent geschlechtsneutrale Bezeichnungen zu verwenden. Die Lesbarkeit der ohnehin komplizierten Zusammenhänge soll, trotz der Bedeutung einer geschlechtergerechten Sprache, nicht noch mehr erschwert werden.