Seit vielen Jahren klagen sich Familien bereits durch die Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit. Mehrmals standen sie vor dem Bundessozialgericht und forderten Beitragsentlastung in der gesetzlichen Sozialversicherung – und mehrmals wurden ihre Klagen mit fadenscheinigen Argumenten zurückgewiesen.

Der Deutsche Familienverband (DFV) und der Familienbund der Katholiken (FDK) wollten diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht auf sich beruhen lassen. Mit der Kampagne „Wir jammern nicht, wir klagen“ wurde Anfang 2015 eine bundesweite Klagewelle durch die Sozialgerichtsbarkeit organisiert. Mehr als 2.000 Familien folgten dem Aufruf und reichten Klage ein. Ihre Forderung ist so nachvollziehbar, wie gerechtfertigt: Sie fordern eine Beitragsentlastung in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, weil sie mit der Erziehung ihrer Kinder doppelt in die Sozialversicherung einzahlen. Sprich: Zum einen mit ihren Beiträgen und, wie es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits 2001 im so genannten Pflegeversicherungsurteil (Aktenzeichen 1 BvR 1629/94) festgestellt hatte, mit ihrem generativen Beitrag, d.h. mit der Erziehung und Betreuung ihrer Kinder.

Doch nach dem Urteilsspruch der Karlsruher Richter passierte nicht viel. Die Abgeordneten des Bundestages mühten sich letztlich dazu durch, den Pflegeversicherungsbeitrag um 0,25 Prozentpunkte für Kinderlose anzuheben. Die Forderung des BVerfG, Eltern innerhalb des Systems und während der Erziehungsphase zu entlasten, wurde ignoriert. Es gibt in der Historie des Verfassungsgerichts wohl kaum ein Urteil, das von der Politik und der Richterschaft so eklatant missachtet worden ist. Die Folge: Familien müssen weiterhin doppelt in die Sozialversicherung einzahlen. Werden derzeit vom sozialversicherungspflichtigen Brutto 35,65 % für die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung abgeführt, heißt das bei einem beitragsfrei zu stellenden und angepassten Kinderfreibetrag von 8.000 Euro im Jahr (wie im Steuerrecht), dass Familien monatlich mindestens 238 Euro pro Kind zu viel an Beiträgen entrichten.

Im Juli 2017 wollte das Bundessozialgericht (BSG) letztendlich einen Schlussstrich unter die Klagewellen ziehen und hatte seine bisherige, von vielen Rechtsexperten als unhaltbare und wissenschaftlich unredliche Leugnung der so genannten Beitragsäquivalenz der Kindererziehung, aufgegeben. Doch eine verfassungswidrige Benachteiligung von Familien wurde weiterhin verneint. Die Chance, die strittige Frage durch eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG letztgültig durch das Bundesverfassungsgericht klären zu lassen, haben die Bundessozialrichter nicht ergriffen – und wollten es wohl auch nicht.

Für die Richter an den Sozial- und Landessozialgerichten hatte das BSG-Urteil eine enorme Arbeitserleichterung zur Folge. Quasi mit einem Federstrich konnte hunderten klagenden Familien vor Augen geführt werden, dass sie im Unrecht seien – oder anders gesagt: 1. Kindererziehung sei nicht wesentlicher Bestandteil des solidarischen Generationensystems, 2. Tausende Familien hätten einschlägige Urteile des BVerfG falsch verstanden, 3. Es gebe faktisch keine Umverteilung von Eltern zu Kinderlosen, 4. Könne man kein Urteil fällen, dass zu Verwerfungen im System führen könnte.

Eine Familie aus Waldshut-Tiengen war ebenfalls nicht länger bereit dazu, Beiträge zur gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu zahlen, ohne dass der durch die Erziehung ihrer vier Kinder erbrachte generative Beitrag berücksichtigt wird. Doch diesmal folgten die Richter der Argumentation der Kläger.

Das Sozialgericht Freiburg stellte fest (AZ 6 KR 5414/15), dass die Finanzierung der Pflegeversicherung mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren ist und hat diese Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt. Die Freiburger Richtervorlage hat erstmals in der jüngeren Geschichte des Sozialrechts deutlich gemacht, dass die Urteile des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmen sind – von Richtern, wie von den Abgeordneten des Bundestages.

Man kann sich tatsächlich fragen, warum bisher so wenige Sozialrichter dazu beigetragen haben, offene Verfassungsfragen direkt anzusprechen. Stets haben sie sich auf widersprüchliche Urteile des Bundessozialgerichtes zurückgezogen, haben es nicht für nötig gehalten, Wissenschaftler und Fachexperten zur Klärung vorzuladen. Im Namen des Volkes wurden von Sozialgerichten Urteile gefällt, die im klaren Widerspruch zu den Grundsätzen der Karlsruher Verfassungsrichter standen. Dies aber hätte eine Richtervorlage zwingend erforderlich gemacht.

Dass eine Beitragsentlastung von Eltern zu „kaum hinnehmbaren Verwerfungen und zu neuen Gleichbehandlungsproblemen führen würde“, wie das Bundessozialgericht meint, kann nicht als Argument dafür herangezogen werden, dass mehrere Elterngenerationen verfassungswidrig mit monetären Beiträgen sowie dem Aufwand für die nachfolgende Generation belastet werden. Dieser Vorwurf ist für alle Familien ein Schlag ins Gesicht und rüttelt an den Grundfesten des Glaubens an ein rechtstaatliches Verfahren.

Die nun beschlossene Richtervorlage des Freiburger Sozialgerichtes beim Bundesverfassungsgericht ist ein wichtiger Etappensieg, der Familien endlich aus der Ecke der Querulanten herausholt.

Wenn das Bundesverfassungsgericht seinen Grundsätzen treu bleibt, müssten Familien nicht mehr als Bittsteller auftreten, sondern würden wirkungsvoll und nachhaltig entlastet werden – allein durch verfassungsfeste Sozialversicherungsbeiträge.

 

 

 

 

 

 


Siegfried Stresing

Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes